Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Kant müssen solche Wertungen inkohärent erscheinen, denn bei ihm haben wir haben ja alle die Pflicht zur Tugend, und daher muß es von vornherein auch jedermann möglich sein, ihren moralischen Aufforderungen Folge zu leisten. Manch einem mag dies leichter fallen als anderen, aber völlig unabhängig davon, wie man charakterlich veranlagt ist, muß es stets möglich sein, dieses Ziel zu erreichen, indem man die rechte Entscheidung trifft7 Man mag sich wünschen, großzügig zu sein oder es bedauern, kleinlich zu sein, aber es ist ungereimt, sich selbst oder jemand anderen einer Eigenschaft wegen zu verurteilen, die man nicht willkürlich kontrollieren kann: Schließlich drückt eine moralische Verurteilung ja aus, daß man nicht so sein soll, wie man ist, und besagt nicht, daß es bedauerlich ist, daß man eine bestimmte Eigenschaft hat.
Gleichwohl ist und bleibt Kants Schlußfolgerung intuitiv nicht akzeptabel. Man kann uns davon zu überzeugen suchen, daß unsere moralischen Wertungen irrational sind, aber sobald wir das Argument dafür nicht mehr unmittelbar vor Augen haben, drängen sie sich uns unwillkürlich wieder auf. Das ist das Grundmuster, das sich durch unser gesamtes Thema hindurchzieht.
Die dritte zu beachtende Kategorie betrifft Kontingenzen der äußeren Umstände, in denen man sich befindet, und ich werde sie nur kurz ansprechen. Die Dinge, die wir tun müssen, wie auch die moralischen Prüfungen, denen wir uns zu unterziehen haben, sind in erheblichem Maße jederzeit von Faktoren determiniert, die sich unserer Kontrolle entziehen. Es mag ja sein, daß sich jemand in einer gefährlichen Situation feige oder aber heroisch verhalten würde, doch falls sich niemals eine entsprechende Lebenslage ergibt, wird er auch niemals Gelegenheit haben, sich in dieser Weise hervorzutun respektive in unserer Achtung zu sinken. Sein moralischer Ruf wird vielmehr ein anderer sein.8
Ein in unserem Jahrhundert unübersehbares Beispiel für dieses Phänomen stammt aus dem politischen Leben. Der Durchschnittsbürger in Nazideutschland hatte Gelegenheit, Widerstand gegen sein Regime zu leisten und sich damit heroisch zu verhalten. Er hatte aber auch die Möglichkeit, sich schlecht zu verhalten – und den meisten Deutschen ist vorzuwerfen, bei dieser Prüfung gravierend versagt haben. Es handelte sich allerdings um eine Prüfung, der sich die Bürger anderer Staaten erst gar nicht unterziehen mußten, was wiederum heißt, daß sich letztere faktisch einfach nicht schlecht verhalten haben – selbst wenn sie (oder wenigstens manche von ihnen) sich unter ähnlichen Voraussetzungen ebenso schlecht verhalten hätten wie die Deutschen – und sich deshalb nicht in der gleichen Weise schuldig gemacht haben wie sie. Auch in diesem Falle ist man also in moralischer Hinsicht in einer Weise dem Zufall ausgeliefert, die bei näherem Nachdenken irrational scheinen kann – und doch wären unsere gewohnten moralischen Haltungen und Einstellungen ohne dieses Phänomen ja schwerlich wiederzuerkennen! Wir werten Menschen allemal nach ihren tatsächlichen Handlungen und Unterlassungen, und nicht bloß danach, was sie getan hätten, wären die Lebensumstände andere gewesen.9
Auch diese Form des moralischen Bestimmtseins durchs Faktische ist paradox; aber wir beginnen zu begreifen, wie tief die Paradoxie im Begriff der Verantwortlichkeit selbst verwurzelt sein muß. Ein Mensch kann nur für das, was er begeht, moralisch verantwortlich sein; aber was er begeht, resultiert aus sehr vielen Umständen, für die er nichts kann. Mithin kann er moralisch nichts für das, wofür er sowohl etwas kann als auch nichts kann. Das ist nicht irgendeine Kontradiktion, sondern es handelt sich tatsächlich um eine echte Paradoxie.
Es sollte auf der Hand liegen, daß ein Zusammenhang gegeben ist zwischen dem Problem der Verantwortlichkeit und Kontrolle auf der einen Seite und dem uns noch besser vertrauten traditionellen Problem der Willensfreiheit auf der anderen. Und damit wäre der letzte Typus moralischer Kontingenz erreicht, den ich ansprechen möchte, allerdings kann ich im Rahmen dieses Essays nurmehr die Zusammenhänge zwischen diesem und den anderen Typen moralischer Kontingenz andeuten.
Kann einer nichts für all die Handlungsfolgen, die sich seiner Kontrolle entziehen, sowie ebensowenig etwas für jene Anfangsbedingungen des Handelns, die seine nicht willkürlich kontrollierbaren Charaktereigenschaften ihm vorgeben, und schließlich auch nichts für die Umstände, die ihn vor moralische Entscheidungen stellen, wie kann er dann auch nur für die nackten Willensakte etwas können, wenn diese ja ihrerseits das Produkt von Voraussetzungen sind, die außerhalb der Kontrolle des eigenen Willens liegen?
Der Bereich des Handelns im eigentlichen Sinne und damit auch der Bereich legitimen moralischen Wertens scheint bei genauerem Hinsehen geradezu auf einen ausdehnungslosen Punkt zusammenzuschnurren. Alles und jedes scheint sich aus dem Einfluß einander ergänzender und zusammenwirkender Faktoren zu ergeben, die dem Handeln entweder vorausliegen oder erst nachträglich wirksam werden, und die der Akteur nicht kontrollieren kann. Da er aber für diese Faktoren nichts kann, kann er folglich auch nichts für deren Auswirkungen – wenngleich es möglich bleiben mag, sich nunmehr ästhetische oder andere wertende Analoga zu den auf diese Weise verbannten moralischen Einstellungen zu eigen zu machen.
Man könnte die Angelegenheit natürlich auch aussitzen wollen und sich frech weigern, die Ergebnisse des vorgeführten Gedankenganges anzuerkennen – die ja in der Tat nur so lange akzeptabel erscheinen, wie wir uns die einschlägigen Argumente dafür vor Augen halten. Man mag dann zugestehen: Wenn bestimmte Begleitumstände andere gewesen wären, dann hätte eine böse Absicht keine verhängnisvollen Auswirkungen zur Folge gehabt, und es wäre keine gravierend schuldhafte Tat begangen worden; aber da die Umstände nun eben einmal nicht anders waren, und es der Handelnde tatsächlich fertigbrachte, einen besonders grausamen Mord zu verüben, ist es das, was er begangen hat, und ist es das, wofür er verantwortlich ist. Ebenso könnte man zugestehen, daß sich der Handelnde nie zu dem Menschen entwickelt hätte, der fähig ist, solche Dinge zu begehen, wenn er sich früher in einer ganz anderen Lebenslage befunden hätte; aber da er eben, wenn auch als unvermeidliches Resultat jener früheren Umstände, zu dem Schwein wurde, das er ist, zu dem Menschen, der einen solchen Mord begangen hat, ist es dies, was ihm vorzuwerfen ist. In beiden Fällen kann man etwas für das, was man faktisch tut – auch wenn, was man faktisch tut, entscheidend von Ereignissen abhängt, über die man keinerlei Kontrolle hat. In einer solchen sogenannten ›kompatibilistischen‹ Auffassung moralischen Wertens gäbe es Platz für die alltäglichen Bedingungen für Verantwortlichkeit (es darf kein Zwang ausgeübt werden; der Akteur darf nicht unwissend sein; die Tat darf nicht Ergebnis unwillkürlicher Bewegungen sein usw.) – die nun teilweise mitfixieren würden, was jemand begangen hat –, doch zugleich würde der Einfluß eines Großteils all dessen, was der Handelnde nicht geschaffen hat, von vornherein eingeräumt.10
Die einzige Crux an dieser Lösung ist, daß sie nicht erklären kann, wie die skeptischen Probleme aufkommen. Sie ergeben sich nämlich nicht, weil willkürliche externe Anforderungen an uns herangetragen werden, sondern sind in der Natur unseres moralischen Wertens selbst angelegt. Irgendeine Komponente unserer gewöhnlichen Vorstellung dessen, was einer tut, muß erklären, weshalb es uns notwendig erscheinen kann, von all dem, was lediglich geschieht, abzusehen – obgleich nach einer derartigen Subtraktion in letzter Konsequenz