Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Die Problemlage gleicht der in einer anderen Disziplin der Philosophie, nämlich der Erkenntnistheorie. Auch dort drohen Bedingungen, die vollkommen selbstverständlich zu sein scheinen und die aus alltäglichen Verfahren erwachsen, mit denen man Erkenntnisansprüche in Frage stellt oder verteidigt, alle diese Ansprüche zu untergraben, sobald man jene Bedingungen nur konsequent anwendet. Die meisten skeptischen Argumente haben die folgende Eigenschaft: Sie beruhen nicht etwa darauf, daß man willkürlich strenge Maßstäbe an menschliches Wissen heranträgt, die auf einem Mißverstehen solchen Wissens beruhen, sondern kommen unvermeidlich auf, sobald man die alltäglichen Maßstäbe nur konsequent anwendet.2 Darüber hinaus liegt aber auch inhaltlich eine genuine Parallele vor, denn auch der erkenntnistheoretische Skeptizismus erwächst ja aus der Betrachtung derjenigen Hinsichten, in denen unsere Meinungen und ihr Realitätsbezug von Faktoren abhängen, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Es sind sowohl äußere als auch innere Ursachen, die menschliche Meinungen generieren. Wir können zwar diese Prozesse in der Absicht, Irrtümer zu vermeiden, einer genauen Prüfung unterziehen, doch unsere Ergebnisse resultieren dann auf der jeweils nächsten Stufe ihrerseits zu einem wesentlichen Teil aus Einflüssen, die wir erneut nicht unmittelbar kontrollieren. Und das wird immer so bleiben, gleichviel, wie weit wir die Untersuchung vorantreiben. Unsere Meinungen werden immer und ausnahmslos auch von Ursachen abhängig sein, die jenseits menschlicher Kontrolle liegen, so daß die Unmöglichkeit, diese Faktoren zu überlisten, ohne uns zugleich wieder anderen auszuliefern, uns daran zweifeln läßt, ob wir überhaupt etwas wirklich wissen. Es sieht dann so aus, als handle es sich gar nicht erst um Wissen, sondern eher um schiere biologische Kontingenz, daß überhaupt eine Reihe unserer Überzeugungen wahr sind.
Moralische Kontingenz ist ein vergleichbarer Sachverhalt, denn obwohl die natürlichen Objekte moralischer Wertung in vielerlei Hinsichten entweder nicht unserer eigenen Kontrolle unterliegen oder doch durch Faktoren beeinflußt werden, die wir nicht unter Kontrolle haben, können wir diese Tatsachen nicht einbeziehen, ohne die Möglichkeit einzubüßen, an unseren moralischen Wertungen festzuhalten.
Im großen und ganzen unterliegen die natürlichen Adressaten moralischer Wertung in vier gleichermaßen beunruhigenden Hinsichten unbestreitbar der Kontingenz: Zum einen kennen wir das Phänomen der Kontingenz der eigenen inneren Konstitution. Hier handelt es sich darum, zu welcher Art Mensch man gehört, wobei dies eben nicht nur eine Frage dessen ist, was jemand absichtlich tut, sondern welche Neigungen, Fähigkeiten und Charakteranlagen er hat. Eine zweite Kategorie ist die der Kontingenz der eigenen Umstände, und damit die der Prüfungen und Situationen, auf die einer sich einstellen muß. Die dritte und vierte Kategorie haben beide mit den Ursachen und Wirkungen des Handelns zu tun: mit Kontingenzen darin, wie man durch vorausliegende Umstände bestimmt wird, und Kontingenzen dahingehend, wie die eigenen Handlungen und Projekte in der Folge ausgehen. Alle vier Kategorien führen auf ein ihnen gemeinsames Problem. Sie alle stehen quer zu der ethischen Vorstellung, daß jemand nur für jenen Bruchteil der Ereignisse gelobt oder getadelt werden kann, der wirklich seiner Kontrolle unterliegt und für nichts sonst. Ihr will es geradezu irrational scheinen, daß wir überhaupt Lob oder Tadel entgegennehmen oder spenden für Dinge, auf die ein Mensch keine Kontrolle ausübt, oder für ihren Einfluß auf Folgen, die er nur zu einem Teil mitkontrolliert hat, da dergleichen zwar die Bedingungen menschlichen Handelns generieren mag, doch dieses Handeln selbst sich nur in dem Maße werten läßt, als es über solche Bedingungen gerade hinausgeht und sich nicht einfach nur aus ihnen ergibt.
Betrachten wir zunächst den Fall der Kontingenz im Hinblick darauf, wie die Dinge letztlich ausgehen – mag es sich dabei nun um Glück oder Pech handeln. Kant denkt in dem eingangs zitierten Passus an ein Beispiel dieser Kategorie, die allerdings ein weites Feld abdeckt: etwa den LKW-Fahrer, dem zufällig ein Kind ins Fahrzeug läuft, oder den Künstler, der eine Schar von fünf Kindern samt Ehefrau verläßt, um sich nur noch der Malerei zu widmen3, ganz zu schweigen von Möglichkeiten, in denen der Erfolg oder Mißerfolg noch weitaus weltbewegender ausfallen können. Dort, wo der LKW-Fahrer sich nicht das mindeste hat zuschulden kommen lassen, wird er sich dennoch furchtbar elend fühlen wegen seines Anteils an dem Unfall. Doch moralische Vorwürfe wird er sich keine machen müssen, und deshalb wird es sich hier zwar um ein Beispiel für jenes typische Bedauern handeln, das ein Akteur dem eigenen Handeln gegenüber empfinden mag, aber noch nicht um den Sonderfall spezifisch moralischen Pechs. Hätte sich der LKW-Fahrer indes nur im mindesten der Fahrlässigkeit schuldig gemacht – etwa weil er es verabsäumt hätte, turnusgemäß seine Bremsen überprüfen zu lassen – würde er sich, sofern dieses Versäumnis zum Tod des Kindes beigetragen hätte, nicht allein elend fühlen, sondern er würde sich moralische Vorwürfe wegen des toten Kindes machen. Und was dies zu einem Fall moralischer Kontingenz macht, ist der Umstand, daß er sich wegen seiner Fahrlässigkeit kaum schuldig fühlen müßte, wäre er nicht in jene Unfallsituation geraten, die ihn zwang, plötzlich und heftig seine Bremsen zu beanspruchen, um abzuwenden, daß ein Kind überfahren wird. Doch ist die Fahrlässigkeit in beiden Fällen eine und dieselbe, und der LKW-Fahrer hat keinerlei Kontrolle darüber, ob ihm ein Kind in den Weg läuft.
Dasselbe gilt auch für Fälle gravierenderer Fahrlässigkeit. Hat einer zuviel getrunken und schlittert er daraufhin mit seinem Auto über einen Bürgersteig, kann er in moralischer Hinsicht von Glück reden, wenn sich dort gerade keine Fußgänger befinden. Sonst würde man ihn nämlich für deren Tod verantwortlich machen müssen und ihn vermutlich wegen fahrlässiger Tötung strafrechtlich verfolgen. Verletzt er hingegen niemanden, macht er sich, wiewohl seine Rücksichtslosigkeit in beiden Fällen genau dieselbe ist, einer viel leichteren Straftat schuldig. Er wird sich dann sicherlich geringere Vorwürfe machen und auch von anderen weit weniger streng beurteilt werden. Oder um ein schlagendes Beispiel aus dem rechtlichen Bereich anzuführen: Das Strafmaß für versuchten Mord ist bedeutend weniger hoch als das für vollendeten Mord, wie sehr sich die Absichten und Motive des Täters in beiden Fällen auch gleichen mögen. Selbst das Ausmaß der Schuld kann also davon abhängen, so sieht es doch offenbar aus, ob das Opfer zufällig eine kugelsichere Weste trägt oder ob gerade ein Vogel in die Flugbahn der Kugel hineinfliegt – von Umständen, die schwerlich der Kontrolle des Handelnden unterliegen.
Und schließlich gibt es noch jene Fälle, in denen eine Handlungsentscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen wird – und es gibt sie im öffentlichen Leben wie im Privatleben. Anna Karenina brennt mit Vronsky durch, Gauguin läßt seine Familie hinter sich, Chamberlain unterzeichnet das Münchner Abkommen, die Dekabristen überreden die unter ihrem Kommando stehenden Truppen, sich gegen den Zaren zu erheben, die amerikanischen Kolonien erklären ihre Unabhängigkeit von England, oder du selbst stellst in dem Bemühen, eine Heirat zu vermitteln, zwei Menschen einander vor. Man ist hier versucht zu wähnen, daß es in allen diesen Fällen bereits im Lichte dessen, was zu dem jeweiligen Zeitpunkt bekannt ist, einfach möglich sein muß, irgendeine Entscheidung zu treffen, die auch unabhängig davon, wie die Dinge ausgehen, gegen moralische Vorwürfe immun bliebe. Das ist jedoch schlicht nicht wahr, denn wer in der einen oder anderen Weise so handelt, nimmt sein Leben mitsamt seinem moralischen Ansehen in die eigenen Hände; was jemand dann begangen hat, hängt nunmehr davon ab, welche Wendung die Ereignisse nehmen werden. Es ist natürlich auch möglich, die Entscheidung aus der Perspektive dessen zu werten, was zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurde, über die Umstände bekannt sein konnte, aber damit hat die Sache schwerlich schon ein Ende. Hätten