Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung hat mit sexueller Perversion nichts zu tun. Der letztere Begriff ist aus psychologischen, nicht aus physiologischen Gründen von Interesse; es handelt sich um einen Begriff, den wir nicht auf niedere Tiere und schon gar nicht auf Pflanzen anwenden, obwohl sie allesamt reproduktive Funktionen haben, die auf vielerlei Weise verloren gehen können. (Man denke nur einmal an kernlose Orangen.) Und wenn wir bereit sind, auch höhere Tiere als pervers zu bezeichnen, dann liegt dies nur an ihrer psychologischen und nicht an ihrer anatomischen Ähnlichkeit mit dem Menschen. Schließlich fassen wir auch bei Menschen nicht jederlei Abweichung von der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität als Perversion auf: Sterilität, Fehlgeburten, Empfängnisverhütung und Abtreibung sind Beispiele dafür.
Der Begriff sexueller Perversion kann auch nicht unter Bezugnahme auf soziale Mißbilligung oder auf gesellschaftliche Konventionen definiert werden. Betrachten wir all die Gesellschaften, die Ehebruch und Prostitution ablehnten. Diese Praktiken wurden nicht als unnatürlich aufgefaßt, sondern sie wurden aus anderen Gründen für verwerflich gehalten. Es ist keine Frage, daß in der einen Kultur etwas als unnatürlich gilt, das für eine andere natürlich ist, doch gleichwohl drückt man mehr als nur Mißbilligung oder Abscheu aus, wenn man etwas als unnatürlich bezeichnet. Tatsächlich wird Unnatürlichkeit oft als Grund für Mißbilligung angeführt; und ebendieser Tatbestand legt den Gedanken nahe, daß die Klassifikation von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ einen unabhängigen Gehalt hat.
Ich werde eine psychologische Erklärung sexueller Perversion anbieten, die an eine Theorie des sexuellen Verlangens und der sexuellen Beziehungen des Menschen gebunden ist. Um an diese Lösung heranzuführen, möchte ich zunächst eine gegensätzliche Ansicht behandeln, die es rechtfertigen würde, die Existenz sexueller Perversionen überhaupt und vielleicht sogar die Bedeutsamkeit dieses Terminus zu bezweifeln. Das skeptische Argument verläuft folgendermaßen:
»Sexuelles Verlangen ist einfach ein Trieb unter anderen, wie Hunger oder Durst. Als Trieb kann es auf verschiedene Objekte gerichtet sein, von denen manche vielleicht üblicher als andere sind, aber keines dieser Objekte ist in irgendeinem Sinne ›natürlich‹. Ein Trieb wird als ein sexueller identifiziert, indem man auf die Organe und erogenen Zonen, in denen seine Befriedigung bis zu einem gewissen Grade lokalisiert werden kann, und auf die konkreten sinnlichen Genüsse verweist, die das Wesen dieser Befriedigung ausmachen. Damit sind wir in der Lage, äußerst verschiedene Ziele, Aktivitäten und Wünsche als sexuell zu betrachten, denn es ist im Prinzip denkbar, daß alles sexuelle Lust erregen oder daß ein unbewußter, sexuell geprägter Wunsch danach geweckt werden kann (und sei es nur durch Konditionierung). Zwar mögen wir einige dieser Wünsche nicht teilen, und etliche (wie zum Beispiel Sadismus) mögen aus Gründen, die mit ganz anderen Erwägungen zu tun haben, auch verwerflich sein; aber sobald wir erkannt haben, daß sie den Kriterien für sexuelle Wünsche genügen, gibt es zu dieser Frage nichts mehr zu sagen. Entweder sie sind sexuell oder sie sind es nicht: Sexualität läßt weder Unvollkommenheit noch Perversion noch irgendeine andere derartige Qualifikation zu – sie gehört einfach nicht zu Gefühlen solcher Art.«
Das ist vermutlich der authentische radikale Standpunkt. Wer ihn vertritt, meint, daß eine psychologische Erklärung sexueller Perversion nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man in Abrede stellt, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist. Aber diese Strategie der Rechtfertigung – sofern sie überhaupt einleuchtend ist – sollte unser Mißtrauen gegen das naive Bild der Triebe wecken, das dieser Skeptizismus unterstellt. Vielleicht können nicht einmal unsere paradigmatischen Triebe wie der Hunger als reine Triebe in jenem Sinne aufgefaßt werden, zumindest nicht in ihrer Ausprägung beim Menschen.
Können wir uns irgend etwas vorstellen, das man als Perversion des Hungers bezeichnen könnte? Hunger und Nahrungsaufnahme haben – ganz wie die Sexualität – eine biologische Funktion und spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle für unser Innenleben. Man beachte, daß es kaum eine Veranlassung gibt, das triebhafte Verlangen nach Dingen, die nicht nahrhaft sind, als pervers zu bezeichnen: Wir würden die Triebe eines Menschen nicht als pervertiert einstufen, wenn er gern Papier, Holz oder Baumwolle äße: Wir hätten es lediglich mit ziemlich merkwürdigen und sehr ungesunden Vorlieben zu tun. Sie besitzen indes nicht die psychologische Komplexität, die wir von Perversionen erwarten (wenn wir von Koprophilie einmal absehen, die ja eigentlich eine sexuelle Perversion ist). Wenn nun aber jemand gern Kochbücher und Zeitschriften äße, in denen Lebensmittel abgebildet sind, und diese der gewöhnlichen Nahrung vorzöge – oder wenn er die Befriedigung seines Hungergefühls durch Streicheln einer Serviette oder eines Aschenbechers aus seinem Lieblingsrestaurant suchte – dann schiene es schon eher angemessen zu sein, den Begriff der Perversion anzuwenden (in diesem Fall würden wir wohl von gastronomischem Fetischismus sprechen). Es wäre auch angemessen, jemandem einen pervertierten Hungertrieb zuzuschreiben, der nur essen kann, wenn ihm die Nahrung mittels eines Trichters durch die Speiseröhre gepreßt wird oder wenn seine Mahlzeit aus lebendigen Tieren besteht. Entscheidend ist die Eigentümlichkeit des Verlangens an sich, und nicht die Tatsache, daß der Gegenstand, auf den es gerichtet ist, der biologischen Funktion dieses Verlangens nicht angemessen ist. Auch ein Trieb kann pervertiert werden, wenn er außer seiner biologischen Funktion eine signifikante psychologische Struktur hat.
Zum Beispiel offenbart sich die psychologische Komplexität des Hungers am Verhalten, in dem er sich äußert. Hunger ist nicht nur eine störende Empfindung, die sich durch Nahrungsaufnahme beseitigen läßt, sondern es handelt sich um eine Einstellung gegenüber eßbaren Bestandteilen der Außenwelt, um den Wunsch, sie in einer ganz konkreten Weise zu behandeln. Die verschiedenen Formen der Nahrungsaufnahme – vom Kauen, Schmecken, Schlucken, bis hin zur Wahrnehmung der Konsistenz und des Geruchs – sind ebenso wichtige Komponenten dieser Beziehung wie die Passivität und Kontrollierbarkeit der Nahrung (die einzigen lebenden Tiere, die wir essen, sind ja hilflose Mollusken). Unsere Beziehung zur Nahrung hängt darüber hinaus von gewissen Größenverhältnissen ab: Wir leben nicht auf ihr wie Blattläuse und wir wühlen uns nicht in sie hinein wie Würmer. Einige dieser Charakteristika spielen eine wichtigere Rolle als andere, aber eine adäquate Phänomenologie des Essens hätte die Nahrungsaufnahme als eine Beziehung zur Außenwelt und als von typischen Erregungszuständen begleitete Aneignung von Bestandteilen der Welt darzustellen. Veränderungen oder ernsthafte Einschränkungen des Verlangens nach Essen ließen sich dann als Perversion behandeln, sobald sie jene unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Nahrung beeinträchtigen, in der sich der Hunger natürlicherweise äußert. Das erklärt, weshalb es nicht schwer fällt, sich auch in bezug auf Hunger Fetischismus, Voyeurismus, Exhibitionismus, ja sogar Sadismus und Masochismus vorzustellen. Einige dieser Perversionen sind übrigens relativ weit verbreitet.
Können wir uns aber Perversionen eines Triebs wie Hunger vorstellen, so müßte es eigentlich möglich sein, auch dem Begriff der sexuellen Perversion einen guten Sinn zu geben. Ich möchte damit keineswegs behaupten, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist, sondern weise lediglich darauf hin, daß etwas auch dann pervertiert werden kann, wenn es ein Trieb ist. Wie beim Hunger ist das charakteristische Objekt sexuellen Verlangens eine bestimmte Beziehung zu einem Teil der Außenwelt. Nur besteht die Beziehung in diesem Falle eben zu einer Person und nicht zu einem Omelett; und außerdem ist die Relation wesentlich komplizierter. Und diese zusätzliche Komplexität bietet Spielraum für entsprechend