Letzte Fragen. Thomas Nagel

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Letzte Fragen - Thomas Nagel eva taschenbuch

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während sie empfängt. Haben zwei Frauen oder zwei Männer Geschlechtsverkehr miteinander, können nicht beide zugleich an diesen sexuellen Rollen festhalten. Aber auch bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr treten beträchtliche Abweichungen von diesen Rollen auf. Frauen können sich sexuell durchaus aggressiv und Männer passiv verhalten, und es ist nicht ungewöhnlich, daß in einem länger andauernden heterosexuellen Austausch zeitweilig die Rollen gewechselt werden. Aus diesen Gründen scheint es zweifelhaft zu sein, ob Homosexualität eine Perversion sein muß, wenngleich sie, und zwar nicht anders als die Heterosexualität, pervertierte Formen annehmen kann.

      Ich möchte mit einigen Bemerkungen über das Verhältnis von Perversionen zum Guten, zum Schlechten und zur Moral schließen. Man kann sich kaum vorstellen, daß der Begriff der Perversion nicht in gewissem Sinne wertend sein sollte, denn er scheint mit dem Gedanken eines Ideals oder immerhin mit der Vorstellung einer erfüllten Sexualität zusammenzuhängen, die von Perversionen in der einen oder anderen Weise nicht erreicht werden kann. Soll der Begriff also haltbar sein, muß das Urteil, daß eine Person, eine Praxis oder ein Wunsch pervers ist, eine sexuelle Wertung ausdrücken; und das impliziert, daß eine bessere Sexualität oder eine bessere Form von Sexualität möglich ist. Dies allein ist noch eine recht schwache Behauptung, denn Wertung könnte ja auch in einer Dimension erfolgen, die für uns nur von geringem Interesse ist. (Vorausgesetzt, meine Überlegungen sind richtig, wird dies allerdings schwerlich der Fall sein.)

      Es ist aber eine gänzlich andere Frage, ob es sich in diesem Falle um eine moralische Wertung handelt – eine Frage, deren Beantwortung ein tieferes Verständnis sowohl der Moralität als auch von Perversionen erfordern würde, als es hier erreicht werden kann. Die moralische Wertung von Taten und Personen ist eine eigentümliche und höchst verwickelte Angelegenheit, und bei weitem nicht jede unserer Bewertungen von Personen und ihren Tätigkeiten ist bereits eine moralische Wertung. Wir fällen über die Schönheit, die Gesundheit oder die Intelligenz anderer ein Urteil, das durchaus bewertend und gleichwohl nicht ethischer Natur ist. Beurteilungen menschlicher Sexualität mögen in dieser Hinsicht vergleichbar sein.

      Darüber hinaus ist es – wenn wir moralische Fragen nun einmal beiseite lassen – keineswegs selbstverständlich, daß nichtpervertierte Sexualität etwa den Perversionen notwendigerweise vorzuziehen ist. Es könnte so sein, daß irgendeine Form von Sexualität, die wegen ihrer Vollkommenheit als Sexualität am höchsten einzustufen wäre, weniger lustvoll ist als gewisse Perversionen; und wenn Lust für sehr wichtig gehalten wird, könnte dieser Gesichtspunkt bei der Ermittlung rationaler Präferenz schwerer ins Gewicht fallen als Überlegungen, die Vollkommenheit betreffen.

      Damit kommt die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem wertenden Gehalt von Urteilen über Perversionen und der eher alltäglichen generellen Unterscheidung von guter und schlechter Sexualität auf. Diese letztere Differenzierung beschränkt sich normalerweise auf sexuelle Akte, und es scheint, daß sie bis zu einem gewissen Grade unabhängig von der anderen Unterscheidung ist: Wer Homosexualität für eine Perversion hält, kann trotzdem zugestehen, daß man zwischen besserer und schlechterer homoerotischer Sexualität unterscheiden kann, und er könnte sogar anerkennen, daß gute homoerotische Sexualität bessere Sexualität sein kann als ziemlich schlechte ›nichtpervertierte‹ Sexualität. Stimmt dies, wird damit also die Ansicht gestützt, daß die Frage, ob etwas als Perversion zu beurteilen ist (immer vorausgesetzt der Begriff der Perversion sei haltbar), höchstens einen Aspekt möglicher Wertung von Sexualität, ja sogar von Sexualität qua Sexualität, abdeckt. Er ist nicht einmal der einzige wichtige Aspekt: Auch sexuelle Unvollkommenheiten, bei denen es sich offensichtlich nicht um Perversionen handelt, können von größter Wichtigkeit sein.

      Und selbst wenn pervertierte Sexualität bis zu einem gewissen Grade nicht so gut wäre, wie sie es sein könnte, bliebe schlechte Sexualität allemal noch immer besser als gar keine. Dies sollte eigentlich unstreitig sein: Denn nichts anderes scheint auch für andere wichtige Dinge, etwa für Essen und Trinken, für Musik, für Literatur und für den Kontakt zu anderen Menschen zu gelten. Letzten Endes muß man ja unter den Alternativen wählen, die einem wirklich offenstehen, wobei es ohne Bedeutung ist, ob es auf das äußere Umfeld oder auf eigene Veranlagung zurückzuführen ist, daß einem gerade diese Alternativen offenstehen. Und die Alternativen müssen schon ungemein düster sein, bevor es vernünftig wird, sich für schlechterdings nichts zu entscheiden.

      Übersetzt von Karl-Ernst Prankel und Ralf Stoecker.

      Massenmord und Krieg

      Apathische Reaktionen einer breiten Öffentlichkeit auf die von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten in Vietnam verübten Greuel lassen den Schluß zu, daß moralische Rücksichten bei der Kriegführung in der amerikanischen Bevölkerung ebensowenig Sympathie genießen wie unter den Verantwortlichen der US-Militärpolitik.1 Macht sich überhaupt einmal jemand für Restriktionen in der Kriegführung stark, dann gewöhnlich allein unter Berufung auf geltendes Recht. Die moralischen Fundamente solcher Beschränkungen verstehen indessen nur die wenigsten so richtig. Es wird mir im vorliegenden Kapitel um den Nachweis gehen, daß derlei Restriktionen weder rein konventioneller Natur sind noch willkürlich, und daß ihre Gültigkeit nicht einfach bloß auf ihrem Nutzen beruht. Es gibt mit anderen Worten selbst dann ein moralisches Fundament, auf dem all das gründet, was in einem Krieg verboten ist, wenn die bislang anerkannten völkerrechtlichen Konventionen noch weit davon entfernt sind ihm hinreichend Ausdruck zu verleihen.

      I

      Man benötigt keine ausgefeilte Moraltheorie, um zu erklären, was zutiefst unrecht ist an Bestialitäten wie dem Massaker von My Lai, denn weder dienten sie noch sollten sie überhaupt strategischen militärischen Zwecken dienen. Und ferner: Wenn die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Indochinakrieg von vornherein immer schon unrecht war, dann kann dieses Engagement ohnehin nicht als Rechtfertigung für auch nur die mindeste ihm dienliche Maßnahme herhalten – geschweige denn für ›Maßnahmen‹, die sogar im gerechtesten aller Kriege nichts anderes wären als widerwärtige Greueltaten.

      Doch im Vietnamkrieg gaben sich Einstellungen allgemeinerer Art zu erkennen, die bereits in der Vergangenheit die Führung von Kriegen beeinflußt haben. Und so stehen wir denn, sollte dieser Krieg eines Tages endlich hinter uns liegen, auch in der Zukunft vor dem Problem, wie denn ein Krieg grundsätzlich überhaupt geführt werden darf; und die Gesinnung, der die besondere Weise geschuldet ist, wie in Indochina Krieg geführt wurde, wird sich dann gewiß nicht in Luft aufgelöst haben. Mehr noch, weitgehend die gleichen ethischen Probleme können sich ebensogut bei Aufständen oder bei Kämpfen stellen, die aus ganz anderen Gründen und gegen ganz andere Gegner geführt werden, und es ist fürwahr nicht leicht, in seiner ethischen Überlegung an einem klaren Bild davon festzuhalten, was bei der Führung eines Krieges noch zulässig ist und was nicht. Schließlich gibt es neben all den Militäraktionen, bei denen es sich um offenkundige Verbrechen handelt, noch eine Reihe anderer Fälle, die weitaus weniger leicht einzuschätzen sind. Die allgemeinen Prinzipien, die unserem ethischen Werten zugrunde liegen, bleiben hier in ein Dunkel gehüllt, und ihre Obskurität mag uns dann dazu verleiten, Intuitionen eines durchaus gesunden Menschenverstandes zugunsten von Kriterien aufzugeben, deren Grundprinzip etwas offener zutage tritt. Will man dieser Versuchung widerstehen, bedarf man eines besseren Verständnisses der einschlägigen Restriktionen als wir es gegenwärtig besitzen.

      Ich beabsichtige hier, das allgemeinste moralische Problem zu diskutieren, das sich stellt, sobald ein Krieg geführt wird: das Problem von Mittel und Zweck. Nach einer der vertretenen Auffassungen sind den Dingen, die im Krieg begangen werden dürfen, Grenzen gesetzt, und zwar gleichgültig wie erstrebenswert der erreichbare Zweck auch immer sein mag – ja, sogar gleichgültig wie teuer das Befolgen dieser Einschränkungen erkauft wird. Ein Mensch, der sich von der Evidenz solcher Restriktionen motivieren läßt, kann sich gegebenenfalls schon sehr bald in einem

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