Letzte Fragen. Thomas Nagel

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Letzte Fragen - Thomas Nagel eva taschenbuch

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vor dem Leben und Wohlergehen zahlloser Mitmenschen zu geben? So mag man die Auffassung vertreten, einer der – wie Truman – im Dienste der Öffentlichkeit steht, habe schlicht kein Recht, auf diese Weise an sich selbst zuerst zu denken; wenn er also überzeugt davon sei, daß jede Alternative schlimmer wäre, müsse er den Abwurf der Bombe befehlen und die Last der Getöteten auf sich nehmen, genauso wie er auch andere unerfreuliche Dinge für das Allgemeinwohl zu tun habe.

      Die Deutung, daß moralischer Eigennutz die Grundlage des Absolutismus bilde, beruht aber gleich auf einem doppelten Mißverständnis. Erstens ist es eine Konfusion anzunehmen, daß das Bedürfnis, die eigene moralische Unschuld zu wahren, der Ursprung einer ethischen Schuldigkeit sein könne, denn man kann doch wohl nur dann seine moralische Integrität oder Unschuld mit einem Mord beflecken, wenn immer schon von vornherein feststeht, daß es unrecht ist zu morden! Was allgemein gegen Mord spricht, kann folglich nicht darin bestehen, daß ein Mord den Mörder zu einem unmoralischen Menschen macht. Zweitens gilt, daß die Beschreibung, man könne bisweilen darin gerechtfertigt sein, die eigene moralische Integrität im Dienste eines hinlänglich wertvollen Zwecks zu opfern, schlicht eine inkohärente Beschreibung ist. Denn erbrächte jemand ein bestimmtes Opfer wirklich gerechtfertigtermaßen (oder hätte er gar die moralische Pflicht, es zu erbringen), würde er seine moralische Integrität auf dem entsprechenden Wege schwerlich opfern: Er würde sie sich vielmehr erhalten.

      Der ethische Absolutismus steht mit seiner Aufforderung, jedermann möge unter allen Umständen die eigene moralische Integrität wahren, nicht allein da unter den Moraltheorien. Sie wird gleichermaßen vom Utilitarismus und von jeder anderen Theorie erhoben, die zwischen Recht und Unrecht unterscheidet. Jede Theorie, die für eine Vielzahl von Umständen festlegt, welche Handlungsalternative die rechte ist, und behauptet, daß man diese Handlungsweise übernehmen muß, behauptet ipso facto, daß man dasjenige tun soll, was einem die moralische Integrität erhält, einfach deshalb, weil es die rechte Handlungsalternative ist, die einem unter diesen Umständen dann auch die moralische Integrität erhält. Natürlich behauptet auch der Utilitarismus nicht, daß man aus dem Motiv moralischer Selbstsucht so handeln soll, aber wie wir gesehen haben, gilt für den Absolutismus dasselbe.

      V

      Es ist wesentlich einfacher sich falscher Erläuterungen des Absolutismus zu entledigen, als eine zutreffende zustande zu bringen. Am Anfang jeder positiven Erklärung muß die Beobachtung stehen, daß Krieg, Streit und Aggression stets Beziehungen zwischen Menschen sind. Die Ansicht, daß es unrecht sein könnte, bei eigenen Taten lediglich die übergreifenden Auswirkungen auf das Allgemeinwohl in Betracht kommen zu lassen, wird relevant, sobald unsere Handlungen Beziehungen zu anderen Menschen mit sich bringen. Eine Handlung betrifft normalerweise weitaus mehr Menschen als nur diejenigen, mit denen der Akteur unmittelbar zu tun hat, und natürlich müssen diese Auswirkungen bei jeder Dezision, was getan werden soll, mitberücksichtigt werden. Gibt es aber spezielle Prinzipien, welche die Art und Weise vorschreiben, wie er andere Menschen zu behandeln hat, muß er sein Augenmerk vor allem auf die einzelnen Personen richten, denen sein Handeln gilt, und nicht mehr vorrangig auf die Folgen im ganzen.

      Es scheint nun zwei Typen absolutistischer Einschränkungen jeder Kriegführung zu geben: Restriktionen in bezug auf die Klasse von Menschen, gegen die sich Aggression oder Gewaltanwendung allererst richten dürfen, und Restriktionen der Art und Weise, wie dann jemand, der zu dieser Klasse gehört, überhaupt attackiert werden darf. Beide lassen sich einstweilen unter dem einen Grundsatz zusammenfassen, daß jederlei Feindseligkeit gegenüber einem Menschen durch etwas an diesem Menschen gerechtfertigt sein muß, das die Feindseligkeit angemessen sein läßt. Feindschaft ist und bleibt eine zwischenmenschliche Beziehung, und sie muß auf diejenigen zugeschnitten sein, gegen die sie sich richtet. Als Konsequenz ergibt sich aus dieser Bedingung, daß bestimmte Menschen im Krieg unter keinen Umständen das Ziel von Feindseligkeiten werden dürfen, da nichts an ihnen eine derartige Behandlung rechtfertigt. Auf andere dürfen sich diese Feindseligkeiten nur unter gewissen Umständen richten oder wenn die betreffenden Leute bestimmten Tätigkeiten nachgehen. Und die Art und das Ausmaß angebrachter Feindseligkeit werden davon abhängen, was im konkreten Fall gerechtfertigt ist.

      Eine derartige Ansicht wird es, wenn sie kohärent ist, für kompatibel erachten, jemanden extrem feindselig und doch als Menschen zu behandeln – ja, als Zweck an ihm selbst. Das ist indessen nur möglich, wenn man nicht automatisch damit aufgehört hat, ihn als Menschen zu behandeln, sobald man damit anfängt, gegen ihn zu kämpfen. Wäre feindseliges, aggressives oder kämpferisches Verhalten anderen gegenüber unvereinbar damit, sie als Menschen zu behandeln, hätten wir Mühe, in dieser Hinsicht weitere Unterscheidungen innerhalb der Kategorie feindseligen Verhaltens zu machen. Solch eine Auffassung würde dann auf der Ebene internationaler Beziehungen zu einer Haltung führen, derzufolge es, falls man keinen bedingungslosen Pazifismus einräumt, nicht unbedingt mehr ein Halten zu geben bräuchte, so daß wir, wenn es uns ratsam schiene, nach Gutdünken metzeln und morden könnten. Dieser Standpunkt wird in Debatten über Kriegsverbrechen nicht selten vertreten.

      Es ist jedoch ein Faktum, daß wir, wenn es um physische oder andere Streitigkeiten zwischen einzelnen Menschen geht, gewöhnlich nicht dieser Meinung sind, und es gibt keinen Grund, warum dies für zwischenstaatliche Streitigkeiten nicht ebensogut gelten sollte. Es scheint eine durchaus natürliche Auffassung der Differenz von sauberem und nicht sauberem Kämpfen zu geben. Nicht sauber kämpfen heißt, seine Feindseligkeit oder Aggression nicht gegen ihr eigentliches Ziel zu lenken, gegen das passende Ziel, sondern gegen irgendein peripheres, möglicherweise verwundbareres, wodurch das eigentliche Ziel mittelbar attackiert werden kann. Das gilt gleichermaßen für einen Boxkampf, eine Wahlkampagne, ein Duell oder ein philosophisches Streitgespräch. Und wenn diese Vorstellung allgemein genug ist, für alle diese Bereiche zu gelten, sollte man eigentlich erwarten können, daß sie auch für Kriege gilt – und zwar ebensogut für das Verhalten einzelner Soldaten im Krieg wie für das Verhalten ganzer Nationen.

      Gesetzt, Sie kandidierten für ein öffentliches Amt und wären überzeugt davon, daß die Wahl ihres Opponenten geradezu eine Katastrophe wäre, daß er sich als skrupelloser Demagoge erweisen wird, der nur die Durchsetzung weniger Partikularinteressen im Auge hat und gewillt ist, die Rechte aller, die sich ihm in den Weg stellen, mit Füßen zu treten; und ferner wären Sie davon überzeugt, daß es Ihnen mit konventionellen Mitteln unmöglich ist, ihn zu schlagen. Stellen Sie sich nun vor, Ihnen ständen eine Reihe unkonventioneller Mittel zur Verfügung: Sie wären im Besitz von Informationen über sein Sexualleben, deren Veröffentlichung zu einem Skandal führen würde; oder Sie hätten erfahren, daß seine Frau Alkoholikerin ist, oder daß er in jungen Jahren für kurze Zeit Mitglied einer geächteten politischen Partei war, und wären der Meinung, daß man diese Informationen benutzen könnte, ihn zu erpressen, seine Kandidatur zurückzuziehen; oder Ihnen stünde eine Gruppe von Helfern zur Verfügung, die bei einer ausreichenden Anzahl seiner Anhänger am Wahltag die Reifen zerstechen könnten; oder Sie hätten die Möglichkeit, Stimmen zu fälschen; oder noch viel einfacher: Sie könnten ihn schlicht aus dem Weg räumen lassen. Angenommen, diese Methoden führten zu einem eminent erstrebenswerten Resultat, was wäre dann gleichwohl noch unrecht an ihnen?

      Natürlich eine ganze Menge: Einige dieser Taten sind rechtswidrig; einige verletzten die Regeln einer Wahl, denen Sie durch Ihre Teilnahme doch wohl verpflichtet sind; einige könnten, was auch nicht ganz unwichtig ist, auf Sie selbst zurückfallen, und es liegt ja im Eigeninteresse aller Kandidaten, sich an die stillschweigende Konvention zu halten, bestimmte persönliche Bereiche aus dem Wahlkampf auszuklammern. Doch ist das noch nicht alles. Wir haben darüber hinaus das Gefühl, daß diese Maßnahmen, die ganze Art und Weise wie angegriffen wird, im Grunde nichts damit zu tun haben, worum es im Kampf zwischen Ihnen und Ihrem Opponenten geht; daß Sie sich, wenn sie von Ihnen ergriffen werden, nicht gegen das an ihm richten, was ihn zum Gegenstand Ihrer Opposition macht. Sie richten Ihre Angriffe dann nicht gegen das wahre Moment, das ihn zu Ihrem Feind macht, sondern gegen etwas Irrelevantes, das weiter abseits liegt, sich aber als sein wunder Punkt

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