Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Die Bedeutung solcher Restriktionen mag mit der Wichtigkeit des jeweiligen Falles variieren, und was in dem einen Fall nicht zu rechtfertigen ist, kann in einer extremeren Lebenslage vielleicht angebracht sein. Aber alle diese Restriktionen leiten sich von einem einzigen Grundsatz her: Feindseligkeit und Aggression haben sich auf ihr wahres Objekt zu richten. Das heißt sowohl, daß sie sich gegen den oder die Menschen zu richten haben, die sie ausgelöst haben, als auch, noch konkreter, daß sie sich dort nur auf das richten dürfen, was sie hervorgerufen hat. Und es ist diese zweite Bedingung, die festlegt, welche Form dann die Feindseligkeit annehmen darf, soll sie angemessen sein.
Es ist offensichtlich, daß diesem Grundsatz eine bestimmte Auffassung davon zugrunde liegt, in welcher Beziehung man prinzipiell zu einem anderen Menschen zu stehen hat, doch fällt es schwer, diese Auffassung explizit zu machen. Ich glaube, sie lehrt ungefähr folgendes: Was immer man einem anderen Menschen vorsätzlich antut, muß auf ihn als Subjekt zielen, und dies mit der Absicht, daß er es als Subjekt erlebt. Es sollte eine Einstellung ihm gegenüber, manifestieren, nicht nur gegenüber der Situation, und er sollte dies auch erkennen und sich als ihr Objekt identifizieren können. Die Verhaltensweisen, in denen sich eine derartige Einstellung ausdrückt, brauchen sich nicht unmittelbar an die Person zu wenden. Jemanden zu operieren, ist beispielsweise nicht eine Form aggressiver persönlicher Konfrontation, sondern gehört zu einer ärztlichen Behandlung, die dem Patienten von Angesicht zu Angesicht zuteil werden kann und von diesem als Reaktion auf seine Not, als natürliche Folge einer Einstellung ihm gegenüber verständig angenommen werden kann.
Feindseligkeiten richten sich, anders als chirurgische Eingriffe, direkt gegen einen Menschen, ohne daß sich ihre zwischenmenschliche Bedeutung erst aus einem weiteren Kontext ergeben müßte. Aber andererseits kann feindliches Verhalten auch nur dazu dienen, eine begrenzte Anzahl von Einstellungen der angegriffenen Person gegenüber auszudrücken oder zu verwirklichen. Diese Einstellungen wiederum beziehen sich auf bestimmte reale oder vermeintliche Eigenschaften respektive Handlungen des Betreffenden, aufgrund derer sie als gerechtfertigt angesehen werden. Fehlt dieser Hintergrund, kann es schwerlich noch Intention des feindseligen oder aggressiven Verhaltens sein, daß der Betroffene es als Subjekt erlebt. Es nimmt dann vielmehr den Charakter eines rein bürokratischen Vollzugs an. Dies ist der Fall, sobald wir jemanden angreifen, der nicht das wirkliche Objekt unserer Feindschaft ist – sei es, daß unser eigentlicher Feind ein anderer ist, den wir über unser Opfer mit attackieren können, oder sei es, daß wir erst gar keiner Feindschaft mit wem auch immer Ausdruck verleihen, sondern nur den Weg des geringsten Widerstands einschlagen, um einen erwünschten Zweck zu erreichen. Wir richten uns dann gar nicht an unser Opfer, wir wenden uns nicht ihm zu, sondern machen bloß etwas mit ihm – ohne daß, wie beim chirurgischen Eingriff, der weitere Kontext zwischenmenschlicher Interaktion hinzukäme.
Um seinen Prioritätsanspruch vor utilitaristischen Erwägungen nicht einzubüßen, muß der Absolutismus den Standpunkt vertreten, daß es dermaßen unerläßlich sei, daran festzuhalten, auf Menschen, mit denen man zu tun hat, direkt und zwischenmenschlich zu reagieren, daß keinerlei Vorteil je eine Verletzung dieser vorrangigen Regel rechtfertigen könnte. Die Aufforderung ist nur dann absolut, wenn sie jegliche Kalkulation ausschließt, wann ihre Mißachtung womöglich gerechtfertigt wäre. Ich habe weiter oben angemerkt, daß es umgekehrt auch Extremfälle geben mag, in denen es uns verunmöglicht wird, noch einen absolutistischen Standpunkt einzunehmen. Man wird dann feststellen, daß einem schlicht keine andere Wahl bleibt, als etwas Schreckliches zu tun. Und doch behält ja sogar in solchen Fällen der Absolutismus noch sein Gewicht, insofern er es uns unmöglich macht, unseren Verstoß gegenüber anderen zu rechtfertigen. Wir haben auch dann nicht recht getan.
In einem ersten Erklärungsanlauf werde ich versuchen, die absolutistischen Beschränkungen mit der Möglichkeit in Zusammenhang zu bringen, dem Opfer gegenüber zu rechtfertigen, was man ihm antut. Gibt man einen Menschen auf, um eine Reihe anderer aus einem brennenden Haus oder sinkenden Schiff zu retten, könnte man zu ihm sagen: »Verstehe doch bitte, ich muß dich jetzt hier zurücklassen, um die anderen zu retten.« Ebenso kann man einem widerspenstigen Kind, das man einer schmerzhaften Operation unterzieht, sagen: »Wärst du schon heute verständig genug, würdest du einsehen, daß es nur zu deinem Besten geschieht.« Ja man könnte sogar, während man einem feindlichen Soldaten das Bajonett in den Bauch stößt, sagen: Du oder ich! Doch man kann nicht wirklich, während man einen Gefangenen foltert, sagen: »Verstehe doch bitte, ich muß dir nun mal die Fingernägel ausreißen, weil es unbedingt notwendig für uns ist, die Namen deiner Komplizen zu erfahren«; noch könnte man den Opfern von Hiroshima sagen: »Ihr versteht doch sicherlich, wir mußten euch leider verbrennen, um die japanische Regierung schließlich und endlich zur Kapitulation zu erpressen.«
Natürlich bringt uns das nicht sehr viel weiter, weil ja ein Utilitarist vermutlich in Fällen, in denen er eine Rechtfertigung der letztgenannten Art überhaupt für ausreichend hält, dann auch gewillt wäre, damit vor seine Opfer zu treten. Schließlich handelt es sich ja um eine Rechtfertigung vor der ganzen Welt, mithin kann man auch von dem Opfer als einem Vernunftwesen erwarten, daß es sie zu würdigen weiß. Gleichwohl scheint mir, daß diese ganze Sichtweise immer schon als solche etwas prinzipiell Fehlerhaftes an sich hat, denn sie ignoriert, daß wir uns, indem wir jemandem widerwärtige Dinge antun, in eine besondere Beziehung zu ihm begeben, die wir durch andere Charakteristika unseres Verhältnisses zu ihm rechtfertigen müssen. Diese theoretische Vermutung bedarf noch sehr der Vertiefung, aber sie könnte uns verständlich machen, wie es Schuldigkeiten geben kann, die in dem Sinne absolut sind, daß überhaupt keine Rechtfertigung mehr dafür möglich ist, sich ihnen zu entziehen. Müßte die Rechtfertigung dafür, was man einem anderen Menschen antut, so beschaffen sein, daß man damit vor ihn als Individuum, nicht vor die Welt im ganzen treten könnte, wäre dies eine wichtige Quelle ethischer Restriktionen.
Ich glaube, daß man diese Erklärung am ehesten durch die folgenden Überlegungen vertiefen kann: Der Absolutist sieht sich als winziges Wesen in Interaktion mit anderen in einer unermeßlich weiten Welt, und die Rechtfertigungen, die er uns abverlangt, sind in erster Linie zwischenmenschlicher Natur. Der Utilitarist hingegen versteht sich als wohlmeinenden Bürokraten, der die Wohltaten, über die er verfügen mag, auf eine erhebliche Anzahl anderer verteilt, zu denen er die vielfältigsten Beziehungen haben mag oder auch gar keine. Die Rechtfertigungen, die er für erforderlich hält, sind in erster Linie administrativer Natur. Es kann sein, daß die Diskussion zwischen den beiden moralischen Einstellungen letzten Endes davon abhängt, welcher dieser beiden Auffassungen relative Priorität gebührt.7
VI
Ein Teil der Restriktionen, die sich von Zeit zu Zeit einmal in der Frage zulässiger Methoden der Kriegführung durchgesetzt haben, läßt sich mit dem Eigeninteresse der beteiligten Parteien erklären: Verbote, die sich auf die Art der eingesetzten Waffen beziehen, die Behandlung von Kriegsgefangenen betreffen und so weiter. Aber es steckt noch mehr dahinter. Die beiden Grundbedingungen der Direktheit und der Relevanz, von denen ich zeigen wollte, daß sie für jede Beziehung gelten, die einen Konflikt oder eine Aggression darstellt, haben auch für den Krieg ihre Gültigkeit. Ich habe behauptet, daß es in der Kriegführung zwei Typen absolutistischer ethischer Restriktionen gibt: Jene, welche die Stoßrichtung demarkieren, also abgrenzen, wogegen sich Feindseligkeit legitimerweise nur richten darf, und jene, die beschränken, wie Feindseligkeiten, selbst wenn ihre Stoßrichtung stimmt, allein beschaffen sein dürfen. Ich werde jetzt über jeden Typus etwas sagen, und dabei wird sich zeigen, daß wir mit Hilfe des oben