Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Der Utilitarismus legt den Primat auf die Frage, was geschehen wird – während für den Absolutismus hingegen stets der Sorge Vorrang gebührt, was im Hier und Jetzt von uns begangen wird. Zum Konflikt zwischen den beiden Standpunkten kommt es, da die Alternativen, unter denen wir in der Regel zu wählen haben, uns nur in den seltensten Fällen lediglich eine Entscheidung abverlangen, welches von mehreren Endergebnissen erreicht werden soll: Sie fordern meist auch die Entscheidung, welcher von mehreren alternativen Wegen einzuschlagen oder welche der zu Gebote stehenden alternativen Maßnahmen zu ergreifen ist. Besteht dann eine der Wahlmöglichkeiten darin, einem anderen Menschen unsägliches Leid zuzufügen, ändert sich unser Problem ganz grundlegend. Es handelt sich von nun an nicht mehr ausschließlich darum, welches Gesamtresultat letzten Endes das schlechtere wäre.
Kaum einer von uns dürfte restlos immun sein gegen diese beiden Arten moralischer Intuition, obwohl es Menschen geben wird, bei denen die einen Intuitionen – infolge eigener Veranlagung oder aus ideologischen Gründen – dominant und die anderen eher unterdrückt oder verkümmert sind. Es kann aber auch sein, daß man beide Typen von Gründen gleich stark in sich verspürt, und dann ist in bestimmten Krisensituationen das Dilemma regelrecht vorprogrammiert. Jede nur mögliche Handlungsalternative – und sei es das pure Nichtstun – scheint in derlei Fällen aus entweder dem einen oder aber dem anderen Grunde moralisch inakzeptabel.
II
Wenn es auch letzten Endes dieses Dilemma ist, das näher zu untersuchen wäre, werde ich mich hier überwiegend seiner absolutistischen Komponente zuwenden; die utilitaristische Komponente ist im Vergleich mit ihr weniger kompliziert. Jedem, der nicht immer schon ein grundsätzlicher Skeptiker in Fragen der Ethik ist, leuchtet sie unmittelbar ein. Der Utilitarismus lehrt, man müsse stets bemüht sein, sowohl auf dem Wege geeigneter Institutionen als auch als Individuum Gutes zu maximieren und Schlechtes zu minimieren (für eine schematische Formulierung seines Standpunkts mag die genaue Definition dieser Kategorien einstweilen unterbleiben), und es sei, sobald man die Möglichkeit habe, ein erheblicheres Übel durch ein unerheblicheres zu verhindern, im entsprechenden Fall das kleinere Übel zu wählen. Es treten fraglos mancherlei Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer utilitaristischen Position auf, und dazu ist ja auch allerhand geschrieben worden – doch ist jedenfalls moraltheoretisch einsichtig, worauf der Utilitarismus hinaus will. Gleichwohl läßt er bis zum heutigen Tag, unbeschadet aller Zusätze und Verfeinerungen, die er erfahren hat, noch weite Gebiete der Ethik völlig unerklärt. Ich möchte damit nicht behaupten, daß irgendeine Form des Absolutismus sie alle erklären könnte, sondern lediglich, daß eine gründlichere Untersuchung der absolutistischen Gegenposition uns die Komplexität und vielleicht sogar Inkohärenz unserer eigenen moralischen Vorstellungen vor Augen führen wird.
Natürlich ist der Utilitarismus durchaus in der Lage, einige der Handlungsauflagen zu rechtfertigen, die für die Führung eines Krieges gelten. So sind beispielsweise zwingende utilitaristische Gründe gegeben, sich jenen Restriktionen zu unterwerfen, die von den meisten Menschen als seine natürlichen Grenzen angesehen werden – vor allem dann, wenn diese Beschränkungen bereits weithin als Restriktionen anerkannt sind. Eine außergewöhnliche Maßnahme, die in einem bestimmten Konflikt durch ihren Erfolg gerechtfertigt erscheinen mag, kann womöglich als Präzedenzfall auf lange Sicht absolut verheerende Auswirkungen haben.2 Ein Utilitarist mag sogar den Standpunkt vertreten, daß schlechterdings jeder Krieg immer Gewalt in einem solchen Ausmaß mit sich bringe, daß es vollkommen unmöglich sei, ihn im Rückgriff auf utilitaristische Gründe rechtfertigen zu wollen: Die Weigerung, sich an kriegerischen Auseinandersetzungen zu beteiligen, könne niemals so schlimme Folgen haben wie ein Krieg, sogar wenn es in ihm nicht zu Greueltaten käme. Ja, er kann sich selbst noch die raffiniertere Position zu eigen machen, daß eine geradlinige politische Prinzipienentscheidung, grundsätzlich nie zu dem Mittel militärischer Auseinandersetzung zu greifen, auf längere Sicht weniger Schaden anrichten würde – wenn man nur konsequent an ihr festhielte – als eine Politik, die bloß von Fall zu Fall utilitaristische Erwägungen zum Tragen kommen ließe (wenngleich zugestanden wird, daß im konkreten Einzelfall dann dieses prinzipielle Festhalten an einer pazifistischen Politik vorübergehend schlechtere Weltzustände zur Folge haben mag als eine auf genau diese Situation zugeschnittene utilitaristische Dezision). Doch werde ich diese Argumentation nicht weiter verfolgen. Mich interessieren hier ganz anders geartete Gründe, die unter Umständen selbst dann noch greifen, wenn Rechtfertigung aufgrund von Eigeninteresse und Utilität scheitert.3
In letzter Konsequenz werde ich zu dem Ergebnis gelangen, daß das Dilemma nicht immer aufgelöst werden kann. Wiewohl nicht jeder Konflikt zwischen Absolutismus und Utilitarismus in ein unlösbares Dilemma führt, und obgleich es mir fraglos richtig zu sein scheint, daß an absolutistischen Restriktionen solange festzuhalten ist, bis schließlich die Utilitätsgründe, von ihnen abzurücken, von geradezu erdrückendem Gewicht und zwingender Zuverlässigkeit sind – unangesehen all dessen gilt, daß es gleichwohl, wenn diese letzte Bedingung erfüllt ist, in der Tat einmal unmöglich werden mag, noch weiter an der absolutistischen Restriktion zu festzuhalten. Was ich also anbiete, ist eine Verteidigung der absolutistischen Position mit einer einschränkenden Kautele. Der Absolutismus gründet, wie ich meine, einen gültigen und fundamentalen Typus des moralischen Denkens, ein Werten, das sich weder auf andere Grundsätze zurückführen noch durch solche außer Kraft setzen läßt; und obwohl es weitere Prinzipien geben mag, die nicht minder fundamental sind, bleibt es von besonderer Wichtigkeit, nicht das Vertrauen auf unsere absolutistischen Intuitionen zu verlieren. Denn manchmal verfügen wir über keine anderen ethischen Prinzipien mehr, denen noch die Funktion der letzten Barriere vor dem Abgrund einer utilitaristischen Rechtfertigung des Massenmordes zukommen könnten.
III
Eine Position der absolutistischen Spielart, die keine Interpretationsprobleme in sich birgt, wäre der Pazifismus: die Ansicht, daß man unter gar keinen Umständen einen anderen Menschen töten darf – gleichviel, was man auf diesem Wege an Gutem schaffen oder an Schlechtem abwenden könnte. Ich werde im folgenden aber eine andere absolutistische Ansicht diskutieren. Der Pazifismus bringt sich zu utilitaristischen Erwägungen immer in besonders drastischer Weise in Gegensatz, aber neben ihm kennen wir noch die andersartige Position, daß Gewaltanwendung genau dann zulässig werden kann, wenn sie besonders offenkundig gerecht wäre, ja, daß sie dann sogar auf breiter Flur zulässig sein mag, solange nur bestimmte absolutistische Einschränkungen in bezug auf Art und Stoßrichtung der Anwendung von Gewalt beachtet werden. Bei dieser Auffassung geht uns die Grenze ein wenig spürbarer unter die Haut – aber es ist eine Grenze.
Die Philosophin, der wir in den letzten Jahren die bedeutendsten Fortschritte in der philosophischen Erörterung dieser Position verdanken, und die auch jene Köpfe mit dem Thema vertraut gemacht hat, die sich nicht immer schon auskannten mit den weitläufigen Debatten dieser Frage in der katholischen Moraltheologie, ist G. E. M. Anscombe.1958 veröffentlichte Miss Anscombe aus gegebenem Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde von Oxford an den amerikanischen Präsidenten Harry Truman eine Streitschrift mit dem Titel Mr. Truman's Degree.4 Sie erläutert in dieser Streitschrift, warum sie sich der Entscheidung, Truman den Titel zu verleihen, seinerzeit widersetzt hatte, erzählt die Geschichte ihres erfolglosen Widerstands dagegen und stellt sowohl Überlegungen zum Hintergrund an, vor dem Truman seinen Entschluß faßte, auf Nagasaki und Hiroshima die beiden Atombomben zu werfen, als auch Überlegungen zur Differenz von Mord und zulässigem Töten im Kriegsfall. Man bekommt deutlich vor Augen geführt, daß