Letzte Fragen. Thomas Nagel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Letzte Fragen - Thomas Nagel страница 13
Oft genug können wir bei vielen schwierigen Entscheidungen die Auswirkungen nicht mit hinreichender Sicherheit vorhersehen. Eine Art der Bewertung einer Entscheidung mag jeweils antizipiert werden, bei einer anderen aber ist das Ergebnis abzuwarten, da von den Folgen ja abhängt, was letztlich begangen wurde. Ein und derselbe Grad von Schuld oder Verdienst bei Absichten, Motiven und Interessen ist hier kompatibel mit den unterschiedlichsten endgültigen Wertungen, sowohl positiver als auch negativer Art, die von Ereignissen abhängen, die erst eintreten, nachdem die Entscheidung gefällt worden ist. Die Gründe moralischen Wertens erschöpfen sich keinesfalls in jener mens rea, die auch ohne alle Folgen existiert haben könnte. In sehr vielen Bereichen, die fraglos allesamt Fälle ethischer Wertung sind – ihr Spektrum reicht von Fahrlässigkeit bis hin zu politischen Prinzipienentscheidungen – hängen Schuld oder Verdienst von den tatsächlich eingetretenen Folgen ab.
Daß es sich gleichwohl um genuin moralische Wertungen handelt und nicht etwa nur darum, einer zeitweiligen Einstellung Ausdruck zu verleihen, läßt sich aus der Tatsache ersehen, daß man ja bereits im voraus angeben kann, in welcher Weise unser moralisches Urteil später von den eingetretenen Folgen abhängen wird. Hat jemand leichtsinnigerweise ein Baby in einer vollaufenden Badewanne allein gelassen, wird ihm, noch während er die Treppe zum Badezimmer hinaufeilt, mit einem Male klar, daß er etwas Schreckliches getan hat, falls das Kind ertrunken ist, während er andernfalls bloß unachtsam gewesen ist. Und wer eine gewaltsame Revolution gegen ein autoritäres Regime vom Zaun bricht, weiß von vornherein, daß er für eine Menge vergeblichen Leids verantwortlich sein wird, falls sie mißlingt, doch ebensogut weiß er, daß er, wenn er Erfolg hat, durch das Ergebnis sehr wohl gerechtfertigt sein wird. Ich sage damit keinesfalls, daß jede Tat rückwirkend durch den Gang der Geschichte gerechtfertigt werden kann. Gewisse Handlungen sind bereits für sich betrachtet dermaßen schlimm oder riskant, daß kein Ergebnis sie je wiedergutmachen könnte. Aber auch dort, wo moralische Wertungen von den Folgen abhängen, bleiben sie allemal objektiv und zeitlos gültig und ihre Gültigkeit hängt nicht etwa von einem durch den Erfolg oder Mißerfolg produzierten Perspektivenwechsel ab. Die Wertung post festum ergibt sich aus einem hypothetischen Urteil, das immer schon im voraus möglich ist und ebensogut vom Handelnden selbst wie von einem anderen hätte gefällt werden können.
Beharrt man hingegen auf dem Standpunkt, daß Verantwortlichkeit an Kontrollierbarkeit gebunden ist, scheint dies alles absurd zu sein. Wie sollte es denn möglich sein, daß einen Menschen eine schwerere oder eine leichtere Schuld trifft, je nachdem, ob ihm ein Kind in den Weg läuft oder ein Vogel in die Flugbahn der Kugel fliegt? Es mag ja wahr sein, daß das, was begangen wurde, von mehr abhängt als dem geistigen Zustand und den Absichten des Akteurs. Dann stellt sich aber das Problem, weshalb es denn nicht geradezu irrational sein sollte, moralische Wertung auf all das zu gründen, was Menschen in diesem weiten Sinne tun, denn das liefe doch darauf hinaus, sie sowohl für jenen Beitrag verantwortlich zu machen, der auf das Konto des Schicksals geht, als auch für den, der auf ihr eigenes Konto geht – wenn sie denn überhaupt etwas beigetragen haben, das rein auf ihr eigenes Konto geht. Denken wir an Fälle von Fahrlässigkeit oder an Attentatsversuche, scheint es sich im allgemeinen so zu verhalten, daß die Gesamtschuld das Produkt aus dem vorsätzlichen oder absichtlichen Vergehen und der Tragweite der Auswirkungen ist. Fälle von Entscheidung unter Bedingungen der Ungewißheit lassen sich auf diese Weise nicht so einfach erklären; denn hier scheint es, daß sich die Gesamtwertung je nach den Auswirkungen sogar vom Positiven zum Negativen wenden kann. Aber selbst hier hat es doch den Anschein der Vernünftigkeit, von den Wirkungen der auf eine Entscheidung folgenden Ereignisse, die zu dem betreffenden Zeitpunkt bloß möglich waren, abzusehen. Es scheint vernünftig, die moralische Wertung statt dessen auf die eigentliche Entscheidung im Lichte der zu diesem Zeitpunkt bekannten Wahrscheinlichkeiten zu konzentrieren. Ist der Adressat moralischer Wertung stets die Person, würde es unbeschränkter Haftung entsprechen, sie für all das verantwortlich machen zu wollen, was sie in jenem weiteren Sinne getan hat. Ein solches Prinzip mag zwar in der juridischen Sphäre seinen guten Sinn haben, doch als Standpunkt der Moral eignet ihm ein Nimbus der Irrationalität.
Ein solcher Gedankengang liefe darauf hinaus, jede Handlung auf ihren ›moralisch essentiellen Kern‹ einzuschränken, eben auf einen inneren Akt des reinen Willens, der rein nach Antrieb und Absicht zu beurteilen ist. Adam Smith hat eine solche Position in seiner Theorie der ethischen Gefühle verteidigt, merkt allerdings auch an, daß sie mit unserem tatsächlichen Werten erst gar nicht in Einklang steht:
So fest wir aber auch anscheinend von der Wahrheit dieses gerechten Grundsatzes überzeugt sein mögen, solange wir ihn auf die angegebene Weise in abstracto ins Auge fassen, so werden doch, wenn wir zur Betrachtung einzelner konkreter Fälle schreiten, die tatsächlichen Folgen, die zufällig aus einer Handlung entspringen, einen sehr großen Einfluß auf unser Gefühl von ihrer Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit üben, und sie werden nahezu immer diese unsere Empfindung entweder steigern oder herabsetzen. Bei genauer Prüfung werden wir vielleicht kaum in einem einzigen Falle finden, daß sich unsere Gefühle ganz und gar durch jene Regel bestimmen lassen, die, wie wir alle anerkennen, doch ausschließlich unsere Gefühle bestimmen sollte.5
Darüber hinaus führt uns Feinberg vor Augen6, daß keine Beschränkung des Bereichs moralischer Verantwortlichkeit auf eine reine Innenwelt Verantwortlichkeit jemals gegen moralische Kontingenz immunisieren könnte. Faktoren, die jenseits der Kontrolle eines Handelnden liegen – wie z. B. ein Hustenanfall – können seine Entscheidung ebenso sicher beeinträchtigen wie die Flugbahn der Kugel aus seinem Gewehr. Alledem zum Trotz ist die Tendenz weitverbreitet, den Bereich dessen, was moralischer Wertung unterzogen werden kann, einzugrenzen, und sie beschränkt sich keineswegs darauf, den Einfluß von Folgen abzuschwächen. Man ist geneigt, den Willen sozusagen auch nach der anderen Richtung hin abzuschirmen, indem man die Kontingenz der eigenen Konstitution ebensogut ausgrenzt. Gehen wir dem als nächstes nach.
Es war vor allem Kant, der besonderen Nachdruck darauf legte, Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften, solange sie nicht der Kontrolle des Willens unterlägen, seien ethisch irrelevant. Qualitäten wie Warmherzigkeit oder Gefühlskälte mögen zwar Randbedingungen schaffen, unter denen es mehr oder minder schwer fällt, moralischen Aufforderungen Folge zu leisten, könnten aber nicht selbst Gegenstand moralischer Wertung sein, und sie könnten eine sichere Beurteilung des eigentlichen Gegenstands moralischer Wertung, nämlich die Bestimmung des Willens durch das Motiv der Pflicht, sogar beeinträchtigen. Damit wird aber von vornherein eine moralische Bewertung zahlreicher Tugenden und Schwächen ausgeschlossen, die eben Charakterzüge sind und durchaus jemandes Motivation beeinflussen, die sich aber mit Sicherheit nicht in Dispositionen zu bestimmten überlegten Handlungen erschöpfen. Eine Person mag habgierig, mißgünstig, feige, gefühllos, geizig, unfreundlich, eingebildet oder eitel sein, und sich dennoch in einer gewaltigen Willensanstrengung korrekt benehmen. Solche Laster zu haben bedeutet, daß man sich unter gewissen Umständen bestimmter Gefühle nicht erwehren kann und spontane Impulse verspürt, schlecht zu handeln. Diese Laster hat man auch dann noch, wenn man die von ihnen