Unter der Drachenwand von Arno Geiger: Reclam Lektüreschlüssel XL. Sascha Feuchert
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Читать онлайн книгу Unter der Drachenwand von Arno Geiger: Reclam Lektüreschlüssel XL - Sascha Feuchert страница 7
Für seinen Wien-Aufenthalt hat sich Veit noch etwas vorgenommen: Als er seine Fahrerlaubnis auf dem Gendarmerie-Posten abholt, behauptet er, der Onkel habe ihn noch vor seinem Tod darum gebeten, Kurt Ritler seine Briefe zurückzugeben (S. 422).
Der Westbahnhof war dick verqualmt: Veit trifft in Wien ein und macht gleich auf mehreren Ebenen Fremdheitserfahrungen: Zum einen erscheint er sich selbst fremd (S. 427), doch die größte Entfremdung stellt der junge Soldat zwischen sich und seinen Eltern fest (S. 430). Es dauert auch nicht lange, bis es zum Konflikt mit dem Vater kommt: »Er fing dann wieder von der Zukunft an, für die wir die vielen Opfer auf uns nähmen« (S. 436). Der Streit eskaliert, als Veit seinem Vater bescheidet: »Du kannst mich einmal.« (S. 436) Für Veit ist der Endgültiger Bruch finale Streit, der zur Folge hat, dass er aus der Familie »flog« (S. 436), v. a. in der Erziehung des Vaters begründet. Nie habe der gelobt, immer zu mehr angestachelt: »Mit Wörtern wie Standhaftigkeit und Konsequenz hatte mir Papa meine Kindheit verdorben. Und die Jugend und das junge Erwachsenenalter hatten mir andere verdorben, aber mit denselben Wörtern.« (S. 437)
Veits Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit umfasst auch die Erinnerung an seine verstorbene Schwester Hilde. Als er ihr Grab auf dem teilweise durch Bomben zerstörten Meidlinger Friedhof besucht, erinnert er sich an Hildes Sterbetag, den er »bis heute als verstörend« (S. 432) empfindet. Besonders, dass er nicht bei ihr bleiben konnte in der Stunde ihres Todes und sie nicht tröstete, macht ihm zu schaffen (S. 433).
Die Untersuchung durch den Truppenarzt steht dann von Anfang an unter keinem guten Stern: Der Mediziner macht sofort klar, dass er Veit für feldtauglich hält (S. 439), weshalb dieser zum letzten Mittel greift und versucht, den Arzt zu bestechen. Doch das Ergebnis fällt anders als erwartet aus: »Diese miese Ratte hatte Margots Geld genommen und mich Veit ›feldtauglich‹kriegsverwendungsfähig geschrieben« (S. 441). Da Veit vorgibt, er hätte in Mondsee ein uneheliches Kind, wird ihm noch ein Aufschub von zwei Tagen gegeben, damit er sich verabschieden kann. Danach soll er zu seiner Einheit nach Insterburg, zur »Knochenmühle im Osten« (S. 442).
Seit es mit Margot: Veit verlässt sein Elternhaus nach den Auseinandersetzungen mit seinem Vater »in tiefer Trauer« (S. 443), um wieder an die Front zurückzukehren. Vorher aber will er Veit und Kurt Kurt Ritler die Briefe übergeben und macht sich auf den beschwerlichen Weg zu dessen Kaserne nach Hainburg. Für Veit verläuft die Begegnung mit Nannis Cousin, den er als »verstockt« (S. 446) empfindet, nicht wirklich erfolgreich: Kurt sei, so vermutet Veit, vor allem »verunsichert und voller Scham« (S. 446), weil er »seine Liebesbriefe aus den Händen eines fremden Mannes« erhält. Nur für einen kurzen Augenblick lockert sich die »Beklommenheit« (S. 447) der beiden jungen Soldaten, als sie nämlich über Nanni sprechen. Doch dieser Moment währt nicht lange, und als Veit den Ratschlag von Kurts Vater, immer »Zivilkleider […] bei sich zu tragen und die Uniform notfalls wegzuwerfen« (S. 448), unterstützt, weist das Kurt deutlich zurück, denn er lasse niemanden mehr im Stich.
Veit ist nach der Begegnung »niedergeschlagen« (S. 449) und macht sich auf den Rückweg. Unterwegs kommt er an den Bauarbeiten zum Südostwall vorbei. Aus einiger Entfernung macht Veit eine furchtbare Beobachtung, er sieht, wie ein Zwangsarbeiter von einem Wachmann zu Tode geprügelt wird (S. 451). Veit geht näher heran und ihm fällt ein anderer, heruntergekommener Zwangsarbeiter auf, der »ein buntes Halstuch« trägt und ihn »mit bohrenden Augen und voller Vorwurf, dabei […] trotzig« anschaut, »mit verstecktem Hass« (S. 452). Ganz offensichtlich begegnet Veit hier unwissentlich Veit und Oskar Oskar Meyer, der wie Kolbe einstmals in der Possingergasse in Wien lebte.
Veit ist durch das, was er bei den Schanzarbeiten sehen muss, getroffen, und er realisiert, dass er »für immer in diesem Krieg bleiben [würde,] als Teil von ihm« (S. 453). Auch wenn Veit nicht erwähnt, dass er erkennt, dass es sich bei den Zwangsarbeitern, die er beobachtet hat, um Juden handelt, erinnert er sich an die Erschießungen »im rückwärtigen Heeresgebiet« (S. 453), die ihm nicht entgangen waren: »Aber ich war so sehr mit meinem eigenen Los beschäftigt, dass ich mir gedacht hatte: Was gehen mich die Juden an?« (S. 453) Gleichwohl hat Veit sich wiederholt gefragt, was wäre, »wenn ich zu einer Erschießungsaktion eingeteilt würde. […] Nie hätte ich gedacht, dass ich je über solche Dinge nachdenken müsste. Denn über so etwas nachdenken heißt, sich damit vertraut machen, das heißt, den Begriff von Normalität verändern, langsam in eine andere Normalität hinüberwechseln.« (S. 454)
Ich saß auf dem Fensterbrett: Bei seiner Ankunft in Mondsee findet Veit Margot einigermaßen deprimiert vor. Die Tage, an denen er fort war, »seien nicht gut verlaufen« (S. 457). Der Konflikt mit Trude Dohm eskaliert offenbar weiter. Angesichts der »sauren, alles zersetzenden Natur« (S. 465) der Vermieterin ist sich Veit sicher: »Du solltest umziehen, Margot.« (S. 467) Die beiden haben Glück und der im Ort ansässige Fleischhauer bietet Margot nicht nur ein Zimmer, sondern auch noch eine Tätigkeit in der Metzgerei an (S. 468). Der UmzugUmzug wird noch am selben Tag vollzogen und auch wenn das Zimmer einfach ist, ist sich Veit sicher: »In dem Moment, in dem ich durch die Tür trat, spürte ich, dass ich mich von etwas losgerissen hatte und endlich ein eigenes Leben besaß.« (S. 469)
Zwar ist Margots Situation in anderer Hinsicht noch ungeklärt, doch ist sie sich sicher, wie es nach dem Krieg weitergehen wird. Als Veit sie fragt, welche Chancen sie ihrer Beziehung zukünftig einräume, antwortet sie eindeutig: »Hundert Prozent« (S. 464). Dennoch macht sie sich auch Sorgen um Veit, nicht nur weil er an der Front ständiger Lebensgefahr ausgesetzt ist, sondern auch wegen seiner Tablettensucht (S. 461).
Zu den Ermittlungen zum Tod des Onkels kann Margot Veit nur wenig Neues berichten. Das Gespräch löst in Veit dennoch » Trauer über Mord Trauer« (S. 458) aus: »[Z]um ersten Mal tat mir, was geschehen war, leid. […] / Und in diesem Moment der Trauer verspürte ich auch den Anfang eines Gefühls von Frieden, weil ich entschied, den Onkel zu lassen, wo er war, und weiterzumachen.« (S. 458 f.) Dieses ›Weitermachen‹ ist für Veit, jetzt, kurz vor der Abreise, getragen von der Gewissheit: »Ich werde überleben. Und später, wenn alles wieder normal ist, werde ich irgendwie die Jahre retten, die ich verloren habe.« (S. 473)
Wir warten auf das Milchauto: Es ist ein eiskalter Morgen, als Veit Margot, deren kleine Tochter und den Abschied aus Mondsee Mondsee verlässt. Veit bedankt sich bei seiner Geliebten »für jede gemeinsame Minute« (S. 474). Auf seinem Weg kommt Veit noch einmal in Schwarzindien vorbei: »Auch im ehemaligen Lager wohnten jetzt Flüchtlinge, Hinausgeworfene, Verratene, Verbrecher, die sich verdrückt hatten, Geschundene, arme Teufel.« (S. 474) Ihn dagegen trägt es hinaus in einen Krieg, der ihm »zuwider« (S. 475) ist und von dem er weiß, dass er eine »unrechte[ ] Sache« ist. Ein letztes Mal führt ihn seine Route an der Drachenwand entlang, »ein über die klirrenden Wälder gereckter Schädel, der mit leeren Augen auf die Landschaft herabstierte« (S. 475), und am Mondsee vorbei. Er denkt auch noch einmal an Nanni und wünscht ihr »alles Gute für ihre Zeit bei den Geistern« (S. 476). Und als ihm all das Vertraute aus dem Blick verschwindet, schließt er »die Augen im Wissen, dass wie vom Krieg auch von Mondsee etwas in [ihm] bleiben wird, etwas, mit dem [er] nicht fertig werde[n]« wird (S. 476).
Nachbemerkungen: Die » Nachbemerkungen Nachbemerkungen« klären über das weitere Schicksal der Protagonisten auf: Veit und Margot überleben den Krieg, heiraten und bekommen zwei weitere Kinder. Veit stirbt 2004, Margot ist zum Zeitpunkt der Niederschrift der Nachbemerkungen 95 Jahre alt. Margots Vater fällt noch 1945 in Schlesien, ihre Mutter stirbt 1961.
Der Brasilianer überlebt und wandert 1948 tatsächlich nach Südamerika aus, sein weiteres Schicksal bleibt ungeklärt. Seine Schwester und ihr Mann überleben ebenfalls und gehen nach dem Krieg nach Freising; Trude Dohm stirbt 1953 in einer Heil- und Pflegeanstalt an einer spät festgestellten Syphilis, der ehemalige SS-Mann