Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
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»Ich verstehe«, erwiderte Philipp, nahm seine Flinte, erhob sich plötzlich, sprang mit einem einzigen Satz in das Feld hinüber und eilte zu dem Pfosten hin. »Hierher, d’Albon, hierher! Halblinks!« rief er seinem Gefährten zu und zeigte ihm mit einer Handbewegung einen breiten gepflasterten Weg. »Von Baillet nach Ile-Adam« fuhr er fort; »dann werden wir also in dieser Richtung den Weg nach Cassan finden, der sich von dem nach Ile-Adam abzweigen muß.
»Das stimmt, mein lieber Oberst , sagte Herr d’Albon und setzte seine Mütze, mit der er sich Luft zugefächelt hatte, wieder auf den Kopf.
»Also vorwärts, mein verehrungswürdiger Rat, erwiderte der Oberst Philipp und pfiff den Hunden, die ihm schon besser zu gehorchen schienen als dem Beamten, dem sie gehörten.
»Wissen Sie, mein Herr Marquis,« begann der Offizier spottend, »daß wir noch mehr als zwei Meilen vor uns haben? Das Dorf, das wir dort unten sehen, muß Baillet sein.
»Großer Gott!« rief der Marquis d’Albon aus, »gehen Sie nach Cassan, wenn Ihnen das Vergnügen macht, aber Sie werden dann ganz allein gehen. Ich ziehe vor, hier trotz des Gewitters ein Pferd abzuwarten, das Sie mir aus dem Schloß schicken werden. Sie haben sich über mich mokiert, Sucy. Wir hätten einen netten kleinen Jagdausflug machen, uns nicht von Cassan entfernen, die Terrains, die ich kenne, absuchen sollen. Na, anstatt daß wir unsern Spaß dabei haben, lassen Sie mich wie einen Jagdhund seit vier Uhr morgens laufen, und wir haben als ganzes Frühstück nur zwei Tassen Milch gehabt! Ach, wenn Sie jemals einen Prozeß bei Gericht haben sollten, dann werde ich Sie ihn verlieren lassen, wenn Sie auch hundertmal Recht hätten!«
Und mutlos setzte sich der Jäger auf einen der Steine am Fuße des Pfostens, legte seine Flinte und seine leere Jagdtasche ab und stieß einen langen Seufzer aus.
»So sind deine Deputierten, Frankreich!« rief der Oberst von Sucy lachend. »Ach, mein armer Albon, wenn Sie, wie ich, sechs Jahre tief in Sibirien gewesen wären! …
Er vollendete den Satz nicht und blickte zum Himmel auf, als ob seine Leiden ein Geheimnis zwischen Gott und ihm wären.
»Vorwärts! Weiter!« fügte er hinzu. »Wenn Sie hier sitzen bleiben, sind Sie verloren.«
»Was wollen Sie, Philipp? Das ist so eine alte Gewohnheit bei einem Beamten! Auf Ehre, ich bin vollkommen erschöpft! Wenn ich wenigstens noch einen Hasen geschossen hätte!«
Die beiden Jäger boten einen seltenen Gegensatz dar. Der Deputierte war ein Mann von zweiundvierzig Jahren und schien nicht älter als dreißig zu sein, während der dreißigjährige Offizier wenigstens vierzig alt zu sein schien. Beide trugen die rote Rosette, das Abzeichen der Offiziere der Ehrenlegion. Etliche Locken, schwarz und weiß wie der Flügel einer Elster, stahlen sich unter der Jagdmütze des Obersten hervor; schöne blonde Haarwellen schmückten die Schläfen des Richters. Der eine war von hohem Wuchs, mager, schlank, nervös, und die Runzeln seines weißen Gesichts deuteten auf furchtbare Leidenschaften oder schreckliche Leiden; der andere besaß ein von Gesundheit strahlendes Gesicht mit dem jovialen, eines Epikuräers würdigen Ausdruck. Beide waren stark von der Sonne verbrannt, und ihre hohen Wildledergamaschen trugen die Merkmale aller Gräben und Sümpfe, die sie passiert hatten, an sich.
»Los!« rief Herr de Sucy, »vorwärts! In einer kleinen Stunde werden wir an einem gut besetzten Tisch sitzen.«
»Sie können niemals geliebt haben,« erwiderte der Rat mit einem komischen Ausdruck von Mitleid, »denn Sie sind so unerbittlich wie der Artikel 304 des Strafgesetzbuchs!«
Ein heftiges Zittern überfiel Philipp; seine breite Stirn runzelte sich; sein Gesicht wurde ebenso düster, wie es der Himmel jetzt geworden war. Obgleich die Erinnerung an ein furchtbar bitteres Erlebnis alle seine Züge verzerrte, vergoß er keine Träne. Wie alle starken Männer vermochte er seine Aufregungen tief im Herzen zu begraben und empfand vielleicht, wie viele reine Seelen, eine Art Schamlosigkeit dabei, seine Schmerzen bloszulegen, wenn kein menschliches Wort ihre Tiefe ausdrücken kann und man den Spott der Leute fürchtet, die sie nicht verliehen wollen. Herr d’Albon war eine von den zartfühlenden Seelen, die Schmerzen zu ahnen wissen und ein lebhaftes Mitgefühl empfinden, wenn sie unbeabsichtigt durch irgendeine Ungeschicklichkeit Anstoß erregt haben. Er achtete das Schweigen seines Freundes, erhob sich, vergaß seine Müdigkeit und folgte ihm schweigend, ganz betrübt darüber, eine Wunde berührt zu haben, die wahrscheinlich nicht vernarbt war.
»Eines Tages, lieber Freund,« sagte Philipp zu ihm und drückte ihm die Hand, wobei er ihm mit einem herzzerreißenden Blick für sein stummes Mitgefühl dankte, »eines Tages werde ich dir mein Leben erzählen. Heute vermöchte ich es nicht.«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Als der Schmerz des Obersten sich besänftigt hatte, empfand der Rat seine Müdigkeit wieder; und mit dem Instinkt oder vielmehr mit dem Willen eines erschöpften Mannes durchforschte sein Auge alle Tiefen des Waldes; er prüfte die Wipfel der Bäume, studierte die Wege, in der Hoffnung, irgendeine Herberge zu finden, wo er um Gastfreundschaft bitten konnte. An einem Kreuzweg angelangt, glaubte er einen leichten Rauch zu entdecken, der zwischen den Bäumen aufstieg. Er blieb stehen, sah aufmerksam hin und erkannte inmitten einer riesigen Baumgruppe die grünen dunklen Zweige etlicher Fichten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit demselben Vergnügen, mit dem ein Schiffer gerufen hätte: » Land, Land!«
Dann eilte er schnell durch eine dichte Baumgruppe, und der Oberst, der in eine tiefe Träumerei versunken war, folgte ihm mechanisch.
»Ich will mich lieber hier mit einer Omelette, Hausbrot und einem Stuhl begnügen, als nach Cassan weitergehen, um dort Diwans, Trüffeln und Bordeauxwein zu finden.«
Das war der begeisterte Ausruf des Rates beim Anblick einer Mauer, deren weißliche Farbe sich weithin von der braunen Masse der knorrigen Stämme des Waldes abhob.
»Ei, ei! Das sieht mir aus wie irgendeine alte Priorei«, rief der Marquis d’Albon von neuem, als er vor einem