Der Gehülfe. Robert Walser
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Immer ein bißchen hochmütig sieht Frau Tobler aus, aber wie gut steht zu den Linien ihres Gesichtes und Körpers diese beständige, zarte Spur von Hochmut. So etwas will man von ihrer Figur gar nicht wegwünschen, denn es gehört ganz einfach dazu, wie der tönende, unaussprechliche Zauber zu einem Volkslied. Dieses Lied klingt fein und in den allerhöchsten Tönen, Frau Wirsich verstand und empfand es gar wohl. Wie kläglich das eine Lied ertönte und wie voll das andere. Herr Tobler schenkte Rotwein ein. Er wollte auch Wirsich einschenken, aber die Mutter verdeckte rasch das Glas ihres Sohnes mit der alten, verknöcherten Hand.
»Ah bah, warum denn jetzt nicht? Er muß doch auch etwas trinken,« rief Tobler.
Da stürzten plötzlich Tränen in die Augen der alten Frau. Alle sahen es und erbebten. Wirsich wollte seiner Mutter irgend etwas zuflüstern, aber eine steife, steinerne Macht, deren er sich nicht zu erwehren vermochte, lähmte ihm den Gebrauch der Zunge. Er saß da wie ein Stockfisch und schaute auf sein eigenes, zaghaftes Essen hinab. Frau Wirsich hatte die Hand zurückgenommen, gleichsam erklärend, es sei ihr nun gezwungenermaßen ganz gleichgültig, ob jetzt ihr Sohn trinke oder nicht. Ihre Bewegung sagte: Ja, schenkt ihm nur ein. Es ist ja doch alles verloren! Wirsich nippte ein wenig an dem Glas, er schien eine unwiderstehliche Scheu zu haben vor dem Genuß des Dinges, das ihn von einer in der Tat für ihn gemütlichen Weltposition herabgestürzt hatte.
O Frau Wirsich, deine verweinten Augen trüben ja ganz deine paar angenommenen, glänzenden Weltmanieren. Wie hattest du dir vorgenommen, dich fein zu bewegen, und wie hat dich nun dein Gram überwältigt. Deine alten Hände, die wie Stirnen durchfurcht sind, zittern recht sehr. Was spricht dein Mund? Nichts? Ei, Mutter Wirsich, man muß sprechen in guter Gesellschaft. Sieh, sieh, wie dich eine gewisse andere Dame anschaut.
Frau Tobler schaute Frau Wirsich mit besorgten, aber kalten Augen leicht von der Seite her an, indem sie zugleich die Locken ihres jüngsten Kindes, das neben ihr saß, streichelte. Eine wirklich wohlhabende Frau! Von der einen Seite strahlte die kindliche Zärtlichkeit und Zutulichkeit zu ihr hinauf, und die andere Seite erfüllte das Weh einer menschlichen Schwester. Beides, sowohl das Liebliche wie das Traurige, schmeichelte der Frau. Sie sagte leise etwas Tröstliches zu Frau Wirsich, worüber diese nur abwehrend aber demutvoll den Kopf schüttelte. Man hatte jetzt gespeist. Herr Tobler reichte sein Zigarrenetui herum, die Herren rauchten. Diese Sonne, diese wundervolle Berg- und See- und Wiesenumgebung. Und dann diese schmale, vorsichtübende Unterhaltung von diesem Häuflein Menschen. Ja, man muß schonen, andere sind auch Menschen! Der Gesichtsausdruck der Herrin des Hauses sagte das lebhaft. Aber gerade dieses stumme Zuverstehengeben, daß man schonen wolle, war schonungslos. Es war vernichtend.
Die beiden Frauen sprachen dann über die Kinder Tobler; sie schienen beide erfreut zu sein, einen, jeglichen Ton der Verletzung entfernenden, Gesprächsstoff gefunden zu haben. Auch fand sich das ganz von selber. Man vergaß sich eben ein bißchen. Von Zeit zu Zeit ruhte das Auge der alten Frau auf Josephs Gestalt, Gesicht und Benehmen, wie um die Vorzüge und Schwächen desselben herauszustudieren und sie in Gedanken mit der Sohnes-Erscheinung zu vergleichen. Die Knaben sprangen bald von ihren Plätzen weg und spielten im Garten, die Mädchen folgten ihnen, so daß die erwachsenen Herrschaften allein am Tisch sitzen blieben. Inzwischen kam die Magd mit einem hölzernen Tablett in der Hand, um den Tisch abzuräumen. Man erhob sich. Tobler trug Joseph auf, »die Glaskugel hinaus zu tragen«, letzterer schickte sich an, den Befehl auszuführen. Die Glaskugel war der Stolz der ganzen Villa Tobler.
Sie hing an kleinen Ketten und Angeln in einem zierlichen, eisernen Gestell, und war verschiedenfarbig, so daß sich die umliegenden Weltbilder in runder, gleichsam aufeinandergetürmter Perspektive grün, blau, braun, gelb und rot darin abspiegelten. Sie war ungefähr so groß wie ein überlebensgroßer Menschenkopf, aber zusammen mit dem Fußgestell wog sie sicherlich ihre achtzig oder neunzig Pfund und war schwer zu tragen. Bei Regenwetter durfte sie nie draußen im Freien stehen bleiben. Man trug sie immer hinaus und hinein, hinein und hinaus. Wurde sie einmal naß, so schimpfte Herr Tobler sehr heftig. Die nasse Kugel tat ihm direkt weh, wie es denn Menschen gibt, die mit gewissen, toten Besitztümern wie mit etwas durchaus Lebendigem umgehen und umgegangen wissen wollen. Joseph sprang daher sehr rasch nach der schönen, farbigen Glaskugel, weil er die Vorliebe Toblers zu derselben bereits Gelegenheit gehabt hatte kennen zu lernen.
Nachdem er den Wunsch und die Schönwetterlaune und -Freude seines Meisters erfüllt hatte, entwischte er flink den Augen der Übrigen, trieb sich die Treppen empor und verschwand in sein Turmgemach. Wie ruhig und still es hier oben war. Hier fühlte er sich befreit, von was, das wußte er eigentlich gar nicht einmal. Aber es genügte, dieses Gefühl zu haben; die wahre Ursache sei, dachte er, ja sicherlich irgendwie und wo versteckt da, aber was bekümmerten ihn jetzt Ursachen. Etwas Goldenes schien um ihn herum zu schweben. Er besah sich einen Moment lang im Spiegel: O er sah noch ganz jung aus, gar nicht so wie Wirsich. Er mußte unwillkürlich lachen. Es trieb ihn, die Photographie seiner verstorbenen Mutter zur Hand zu nehmen. Sie stand da so auf dem Tische. Warum sie also nicht nehmen und betrachten? Er schaute sie ziemlich lange, wie ihn deuchte, an, und legte sie dann wieder an ihren Platz zurück. Dann zog er ein anderes, jüngeres Bild aus der Tasche seines Rockes, es war das Porträt einer Tanzschülerin, eines Mädchens, das er »in der Großstadt« kennen gelernt hatte. Diese ganze, ferne, menschenerfüllte Großstadt. Dieses belebte, hohe Bild, wie entschwunden schien es ihm, wie lang schon entschwunden. Er mußte in diesen Gedanken hinein wieder unwillkürlich lachen. Er machte gewichtige Schritte im Zimmer auf und ab, rauchend natürlich. Ob es denn eigentlich durchaus immer nötig sei, so einen Stengel im Mund zu tragen? Wie herrlich die frische Berg- und Seeluft durch seine erhöhten vier Wände strich. Und hier hatte Wirsich gehaust? Der Mann mit dem Leidensantlitz? Joseph bog seinen atmenden Kopf zum Fenster hinaus, an die sonntägliche und mittägliche Welt-Freiheit. Und ich habe fünf Mark Taschengeld, und kann den Kopf zu solch einem fürstlich gebauten und gelegenen Fenster hinausstrecken? –
Unten im Bureau ging es indessen mehr gedämpft als fürstlich zu. Der Ton, in dem Herr Tobler und sein ehemaliger Angestellter, Herr Wirsich, sich dort unterhielten, war ein sehr, sehr gedämpfter, ja, beinahe ein dumpfer.
»Das müssen Sie selbst zugeben,« sagte Tobler, »daß von einer Wiederaufnahme unserer früheren, gegenseitigen Beziehungen vorläufig die Rede nicht mehr sein kann. Den Bruch haben Sie herbeigeführt, nicht ich, ich würde Sie gerne behalten haben. Nichts veranlaßt mich, den Marti wegzuschicken, er macht seine Sache auch ganz ordentlich. Es tut mir leid, Wirsich, glauben Sie mir das nur, aber Sie sind selbst schuld. Es hat Ihnen niemand befohlen, mich, Ihren Brotherrn, wie einen dummen Jungen zu behandeln. Machen Sie nun alles Weitere mit sich selber ab. Was ich anstandshalber tun kann, Ihnen zu einem anderweitigen Posten zu verhelfen, will ich gern tun. Hier ist noch eine Zigarre. Da. Nehmen Sie.«
Ob sich denn wirklich jetzt nichts mehr ändern ließe?
»Nein, nein, jetzt nicht mehr. Entsinnen Sie sich übrigens nur, was Sie mir in jener saubern Nacht zugebrüllt haben, und Sie werden begreifen, daß es zwischen uns keine Anknüpfungen mehr geben kann.«
»Aber Herr Tobler, das war doch alles die Trunkenheit, nicht ich selber.«
»Ach was Trunkenheit und nicht Sie selber! Das ist es ja gerade. Ich habe zu fünf oder sechs oder mehr Malen gedacht: Das ist nicht er selber! Freilich sind Sie das alles selber gewesen. Der Mensch besteht nicht aus zweierlei Dingen, sonst wäre wahrhaftig das ganze Erdenleben eine zu bequemliche Sache. Wenn da jeder kommen könnte mit: ›das bin nicht ich selber gewesen‹, wenn er einen Bock geschossen hat, was würden dann noch Ordnung und Unordnung zu bedeuten haben? Nein, nein, man sei in Gottesnamen der, der man ist. Ich habe Sie auf