Zu Keynes passt das nicht. Björn Frank

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glücklichere sein. Allerdings unterscheiden sich die Glücksniveaus der beiden weniger als ihr Reichtum, denn je reicher jemand schon ist, desto weniger wächst das Glück mit einem zusätzlichen Taler, Pfund, Dollar oder Euro. Für heutige Ökonomen ist das eine Selbstverständlichkeit (und heißt »abnehmender Grenznutzen des Geldes«), Bentham aber musste viel Mühe darauf verwenden, diesen damals neuen Gedanken zu erklären. Der Leser, schrieb er, solle sich tausend Bauern vorstellen, deren Einkommen zum Überleben reicht und für ein bisschen mehr. Und dazu einen König, der so reich ist wie die tausend Bauern zusammen, oder besser noch einen Prinzen anstelle des Königs, damit er die Mühe des Regierens nicht hat, sondern seinen Reichtum genießen kann. Dieser Prinz sei nun sicherlich glücklicher als ein durchschnittlicher Bauer – aber nicht tausendmal glücklicher. Selbst wenn er nur fünf- oder zehnmal glücklicher sei, wäre das schon bemerkenswert, meinte Bentham.

      Wenn Geld nun aber den Armen mehr Glück bringt als den Reichen, dann müsste man konsequenterweise folgern, dass das Glück insgesamt am größten wäre, wenn alle gleich viel hätten. Und Bentham tat das auch. Was nicht heißt, dass er meinte, man solle den Reichen ihr Geld so lang wegnehmen, bis alle Unterschiede zwischen Armen und Reichen verschwunden seien.

      Zum einen würde das dazu führen, dass niemand sich noch Mühe gäbe, seinen Besitz zu vermehren – was er sich erarbeitet, würde ihm ja sogleich wieder genommen. Zum anderen ist für das Glück nicht nur wichtig, wie viel Geld man hat, sondern auch, wie der Besitz zustande gekommen ist. Hinzugewonnenes Geld erhöht das Glück, verliert man aber dieselbe Summe, dann ist der Einfluss auf das Glück stärker (und natürlich negativ).

      Wie bei allen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts ist die Quelle solcher psychologischer Einsichten die Introspektion, bestenfalls Alltagsbeobachtung. Seit den 1980er Jahren aber zeigen auch zahlreiche Experimente, dass Bentham recht hatte. Beispielsweise schenkten die Ökonomen Jack Knetsch und Jack Sinden einigen Studenten Lotterielose und boten ihnen an, sie für zwei Dollar zurückzukaufen. Genau die Hälfte der Studenten ging auf dieses Angebot ein, die andere Hälfte wollte die Lose lieber behalten. Andere Studenten bekamen keine Lose geschenkt, konnten sie aber für zwei Dollar kaufen. Das wollte nur ein knappes Viertel aus dieser Gruppe. Offensichtlich erschien das Los also denen attraktiver, die es schon in ihrem Besitz hatten, und es fiel ihnen schwer, sich davon zu trennen. Anders formuliert: Im Durchschnitt müssen die Gefühle derer, die das Los haben und weggeben, schwerer wiegen als die Gefühle derer, die das Los bekommen. Verlust beeinflusst das Glück stärker als Gewinn.

      Ein ähnliches Experiment führte Jack Knetsch zusammen mit zwei späteren Ökonomie-Nobelpreisträgern durch: mit Daniel Kahneman, einem Psychologen, der 2002 ausgezeichnet wurde, und Richard Thaler, dem Preisträger von 2017. Die drei Forscher gaben einigen Studenten eine Kaffeetasse mit Universitätslogo, die sie nach Gutdünken behalten oder verkaufen konnten. Die Teilnehmer, die den Preis der Tasse nicht kannten, sollten zu einer Vielzahl von Beträgen jeweils angeben, ob sie für diesen Preis verkaufen würden oder nicht. Andere Studenten erhielten keine Tasse, hatten aber die Möglichkeit, eine zu kaufen. Der Betrag, den die Käufer gerade noch bereit waren zu zahlen, lag im Durchschnitt bei 2,45 Dollar, die Wertschätzung der Becherbesitzer für ihr Eigentum lag aber viel höher, bei 5,50 Dollar. Besitzen wir Dinge, erscheinen sie uns allein deshalb wertvoller: Das ist ein inzwischen oft bestätigtes Phänomen und bekannt als »endowment effect« (Besitztumseffekt).

      Dass Bentham intuitiv erfasste, was Ökonomen fast zweihundert Jahre später experimentell nachwiesen, half ihm, diese Frage zu beantworten: Was ist eigentlich der Schaden, den ein Dieb anrichtet? Genauer gesagt: Was ist der volkswirtschaftliche Schaden? Das Opfer ist ärmer, aber der Dieb ist um denselben Betrag reicher. Heißt das nicht, dass bloß Einkommen innerhalb einer Volkswirtschaft umverteilt wird? Zugegeben, handelte sich um einen Einbruch, bei dem eine Scheibe eingeschlagen, ein Tresor gesprengt oder ein Wachhund vergiftet wird, dann ist klar, dass das Opfer mehr verliert, als der Dieb gewinnt. Aber Bentham war der erste Ökonom, der klar erkennen konnte, dass auch durch Taschendiebstahl ein Schaden entsteht – kein materieller Schaden für die Volkswirtschaft, aber doch ein Verlust an Glück, denn der Verlust schmerzt das Opfer mehr, als der Gewinn den Dieb erfreut.

      Was also tun, damit weniger gestohlen wird? Benthams Antwort ist charakteristisch für sein ganzes Denken: Ganz offensichtlich, meinte er, wiegen beim Dieb die Freuden des Diebstahls schwerer als seine Leiden. Also muss man die Freuden verringern und die Leiden vermehren. Dies ist die Rechtfertigung dafür, Diebe zu bestrafen.

      Nun handelte es sich zu Benthams Zeiten bei Gefängnissen wahrlich um Orte des Leidens: In feuchten und kalten Verließen waren die Häftlinge inkompetenten, teilweise grausamen Wärtern ausgeliefert, vegetierten schlecht ernährt und mitunter angekettet vor sich hin, kaum imstande zu der Zwangsarbeit, die ihnen auferlegt war. Das war nicht die Art von Strafe, die Bentham sich vorstellte. Wenn es schon Gefängnisse geben musste, dann sollten sie viel nützlicher sein!

      Benthams jahrzehntelanger Traum von einer großen Gefängnisreform begann im Jahr 1786. Er unternahm die größte Reise seines Lebens und besuchte in Russland seinen Bruder Samuel, der damals im Dienst des Fürsten Potemkin stand (ja, eben jenes Beraters und Ex-Liebhabers von Katharina der Großen, nach dem die Potemkin’schen Dörfer benannt sind). Samuel Bentham war Ingenieur; er half Potemkin, große Territorien im Zarenreich wirtschaftlich zu erschließen und militärisch zu sichern. Als Jeremy bei ihm eintraf, beschäftigte ihn gerade der Bau von Binnenschiffen, die Baumaterial von Potemkins Besitz im weißrussischen Kritschew über die Sosch und den Dnjepr zu Werften am Schwarzen Meer bringen sollten.

      An Geld mangelte es nicht, aber die Fachkräfte, die Samuel brauchte, gab es vor Ort einfach nicht. Also ließ er Engländer kommen, die die russischen Arbeiter anlernen und beaufsichtigen sollten. Doch bald stellte sich heraus, dass unter denjenigen, die England verließen, um in Weißrussland ihr Glück zu suchen, einige problematische Charaktere waren, die selbst der Aufsicht bedurften.

      Daher plante Samuel eine zentrale Aussichtsplattform, um die herum die verschiedenen Gewerke, durch Holzzäune voneinander getrennt, tortenstückartig angeordnet sein sollten. Auf der Plattform sollte sich eine Art Pavillon befinden, der von außen nicht gut einzusehen war. Diese Anlage wurde nie gebaut, weil Potemkin seinen Besitz verkaufte und Samuel für andere Aufgaben einsetzte. Jeremy aber war Feuer und Flamme und begann, Samuels Idee zu einem völlig neuartigen Gefängnis, dem »Panoptikum«, weiterzuentwickeln: kreisförmig mit einem Turm in der Mitte, von dem aus ein Inspektor alle Zellen im Blick haben konnte, ohne dass die Gefangenen – und die Wärter, die dem Inspektor unterstellt waren – wissen konnten, ob sie gerade überwacht wurden.

      Das ist zunächst einmal effizient: Zwar ist es unmöglich, alle Gefangenen gleichzeitig zu beobachten, aber die sollten sich klugerweise trotzdem so verhalten, als würde jeder permanent beaufsichtigt. Vor allem aber knüpfte Bentham große Erwartungen an die Wirkung auf die Kriminellen: »Verbesserung der Moral – Erhaltung der Gesundheit – Belebung des Arbeitseifers – Verringerung der Belastungen für die Allgemeinheit (…) – und all dies durch eine simple architektonische Idee!«

      Das Panoptikum war Anlass für eine Fülle von scharfsinnigen Analysen durch professionelle Bentham-Interpreten. Manche meinten, in der psychologischen Naivität Benthams, der sich schon als Herr über zahlreiche Gefängnisse wähnte, die nach seinen Vorstellungen gebaut werden und viele Häftlinge bessern sollten, ein Anzeichen für das Asperger-Syndrom zu erkennen. Andere sahen den Reformer, der die Zellen gut lüften und mit fließendem Wasser versehen wollte. Oder den kühlen Kalkulierer, der die Gefangenen nur deshalb ausreichend und gesund ernähren wollte, damit sie zu sechzehn Stunden Arbeit am Tag in der Lage waren. Oder den intelligenten Ökonomen, der den Gefängnisdirektoren Anreize setzen wollte – ihre Bezahlung sollte davon abhängen, wie viele Sträflinge die Haft überleben.

      Man kann das Skurrile herauspicken, etwa Benthams Idee, dass in dem Wachturm nicht nur der Inspektor wohnen sollte, sondern auch seine Familie, denn Frau und Kinder würden ja sonst nutzlos aus dem Fenster schauen, während das

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