Der Reporter. Jacques Berndorf
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Ich weiß: Ich muss jetzt sagen, dass beileibe nicht alle in diesem Beruf so sind, nicht alle von Exhibitionisten schreiben oder über Frauen, die ihr Mann erschlug, erwürgte, erschoss. Gut, ich sage es. Aber ich habe in dieser Welt von Autobahntoten, Suffmördern, bestochenen Regierungsräten und spermabesudelten Kinderleichen gelebt, und es ist schwierig, im Schmutz zu leben, ohne darin umzukommen. Ich bin wohl verbittert.
Chamonix war eine blödsinnige, hastige Geschichte, bei der wir nur Spesen machten und versuchten, irgendwelche Toten zu fotografieren, die es nicht gab. Ich glaube, ich habe in Chamonix begonnen, alles zu zerstören – möglicherweise aber auch viel eher. Auch diese Zeit kann zerstört haben, weil ich sie nicht begriff und nicht in Frieden mit ihr leben konnte. So war ich nur ein Werkzeug und habe eine Entschuldigung.
Ich weiß es nicht.
Es muss Frühjahr gewesen sein, denn auf den Straßen lag frühmorgens noch Eis, obwohl die Sonne schon stark war und gleißend. Wir wurden gegen Mittag zu Braumann gerufen. Braumann war damals schon Chef der Produktion, er wählte die Geschichten aus, er steuerte die Reporter. Er sagte: »In Chamonix ist in der vergangenen Nacht eine Düsenmaschine gegen den Berg gerast. Angeblich einhundertsiebzehn Tote. Seht zu, was ihr machen könnt, und ruft mich an, wenn irgendetwas Besonderes ist.«
Nahezu alle meine Geschichten machte ich mit Kohler. Er war ein guter Fotograf, er hatte Einfälle und Mut. Es gab einige Leute, die behaupteten, er sei homosexuell, aber ich weiß, dass er es nicht war. Diese Leute ließen sich wohl davon leiten, dass er gern grellfarbene Krawatten trug, ganz enge Hosen, taillierte Jacken und weiches, langes Haar. Ich muss zugestehen, dass sein Gesicht sehr weibisch wirkte. Aber er war damals so verdammt allein, dass er irgendetwas aus sich machen musste, damit er nicht grau und eintönig daherlebte. Das ist wohl alles. Und ich weiß nur, dass er Furcht hatte vor irgendetwas und dass er diese Furcht niemals wirksam bekämpfen konnte, denn sie saß sehr tief in ihm.
Wir erreichten die Maschine, die gegen fünfzehn Uhr nach Genf flog. Das Wetter war sonnig, und es war eine dieser zweimotorigen Convair-Maschinen, mit denen ich sehr gern fliege, weil sie auf mich so solide wirken wie jene großen, zeitlosen englischen Autos, die man hierzulande kauft, um irgendwer zu sein. Wir tranken unterwegs zwei oder drei Kognaks, und Kohler nahm eine dieser kleinen, gelben Pillen, sodass er ruhig und lustig war und in sehr gekonnt gebrochenem Englisch einen Witz aus der Fliegerei erzählte. »To the right you see the snowcapt mountains, to the left a burning engine. Here is Captain Gonzales, speaking from the toilet.«
In Genf nahmen wir von Avis ein Auto, einen Peugeot, und machten uns auf den Weg nach Chamonix. Die Straße über Bonneville und Cluses war anfangs sauber und trocken. Später, als die Steigungen begannen, war es gefährlich, denn das Eis und der Schnee reflektierten das Licht der Scheinwerfer, und zuweilen konnte ich nicht ausmachen, wie weit ich von den scharf gezähnten Felswänden oder von den steilen Abhängen entfernt steuerte.
Kohler war in bester Verfassung und erzählte mir eine Geschichte von drei Studentinnen, mit denen er in einem Abteil des Jugoslawien-Express vor einigen Monaten Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Er erzählte mir diese Geschichte zum soundsovielten Mal, und auch jetzt erfand er wieder neue Variationen, über die ich lachen musste, obwohl er sehr obszön erzählte, manchmal geradezu blutig.
Aber in all seinen Sätzen lag eine sachliche Behutsamkeit. Er sagte nie: »Sie stöhnten und bissen mich, und die Dicke schrie: ›Jetzt will ich!‹, er sagte: ›Sie waren verrückt, weil sie endlich aus ihrer Einheitssuppe herauskamen. Und sie fingen mit dem Verrücktwerden sofort im Zug an, als die Eltern noch auf dem Bahnsteig standen und winkten. Und sie schrien wie verrückt, als hätten sie es nie gehabt. Und die Dicke hatte Tränen in den Augen. Sie schämte sich so, aber sie schrie …«
Ich erinnere mich, dass ich in Sallanches auf dem Marktplatz hielt, weil ich unbedingt etwas trinken wollte, und Kohler plötzlich aufgehört hatte zu erzählen. Er saß mit weißen, verkrampften Händen vornübergebeugt und sagte fortwährend: »Scheiße! Ist mir komisch!«
Wir gingen in ein kleines Bistro, das voller Männer war und voller Lärm. Sie alle sprachen über das Flugzeugunglück, aber schon bald spürten wir, dass niemand von ihnen wirklich etwas wusste. Ich trank einen halben Liter Weißwein sehr hastig und aß dazu einige Hörnchen, während Kohler eine Unmenge Kognak trank, der erst zu wirken begann, als hinter Le Fayet die hinterhältigen Kurven begannen.
»Einhundertsiebzehn Tote«, sagte er. »Stell dir das vor. Das gibt einhundertsiebzehn Bilderchen.« Er kicherte hoch, obwohl der Wagen plötzlich nach links in den Nebel hineinrutschte und ich versuchte, ihn durch beständiges Gasgeben durchzubringen. Ich sagte: »Schnauze. Du siehst doch, dass ich mich konzentrieren muss.«
»Warum bist du so grob?«, jammerte er. Und bald darauf war er eingeschlafen.
In Chamonix hatte die Saison noch nicht begonnen, obwohl sich der Schnee an der Ortseinfahrt meterhoch türmte. Der große Parkplatz sah aus wie ein Stadion, denn man hatte den Schnee mit einem Schaufelbagger an den Rand geschoben, dass es aussah wie eine Zuschauertribüne. Auf dem Platz standen vielleicht zwanzig oder dreißig Autos und zwei mit Zeltplanen verdeckte Hubschrauber, die von großen Heizsonnen bestrahlt wurden, um die Maschinen gegen die Kälte zu schützen. Ich ließ den Wagen absichtlich schleudern und sagte: »Wir sind da, du Saufbold.« Aber natürlich wachte er nicht auf. Er hatte seit dem Abflug mehr als eine ganze Flasche Kognak getrunken.
Vor dem Restaurant neben dem großen Parkplatz hielt ich an und stieg aus. Es war sehr kalt, und ich kam auf die Idee, Kohler zu wecken, indem ich die Tür auf seiner Seite ebenfalls öffnete. Kein Mensch war zu sehen, aber aus dem Lokal kam tröstlicher Lärm.
»Was ist?«, fragte Kohler.
»Wir sind da«, sagte ich, »warte einen Moment.« Ich ging in das Restaurant hinein und drängelte mich zwischen den dichtbesetzten Tischen hindurch. Irgendjemand schrie laut: »Poggemann!«, und ich sah Bernhold von einer der Agenturen neben einem hellblonden Mädchen sitzen und winken.
»Ich komme gleich«, brüllte ich zurück. Er beugte sich zu dem Mädchen und sagte ihm wohl, wer ich sei, dann winkte er noch einmal und begann, mit ihr zu flüstern. Wahrscheinlich war es eine Anfängerin, die man ihm mitgegeben hatte, um etwas zu lernen, und wahrscheinlich würde er in dieser Nacht mit ihr schlafen. Bernhold war ein netter Kerl, der sehr viel redete und ausgezeichnet schreiben konnte, wenn es sein musste.
Der Wirt sagte mir, er habe keine Zimmer mehr frei, aber wir könnten in seiner Pension am Ende der Straße wohnen. Er lächelte: »Bei mir hier ist alles voller Presse, Monsieur. Sie werden verstehen.«
Ich fragte, wie viel er von dem Flugzeugabsturz wisse, und er tat geheimnisvoll, zuckte mit den Achseln und versuchte den Eindruck zu erwecken, er besitze exklusives Material. Das tun sie alle. Aber ich sah Filmkameras und Fotoapparate auf jedem Tisch und wusste, dass er log.
»Ich weiß nicht recht, Monsieur. Ich habe einige Gäste da, die nicht zur Presse gehören.« Er beugte sich vertraulich vor und flüsterte: »Die Untersuchungskommission, verstehen Sie?« Er verzog ernsthaft sein Gesicht. »Gegen ein kleines Honorar würde ich Sie nach oben bringen. Die Herren sitzen im Konferenzzimmer.«
Ich sagte ihm, er sei ein Schlitzohr, und er lachte.
Es war jetzt nur wichtig festzustellen, wie viel Bildmaterial es gab. Meine Textrecherchen konnten warten, ich würde sie aus den Zeitungen holen können. Also ging ich zu Bernhold und dem Mädchen. Ich wusste, dass Bernhold immer bereit war,