Alltagsrassismus. Wolfgang Benz
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Eine Frankfurter Rechtsanwältin, die durch die Vertretung von NSU-Opfern prominent wurde, erhält Morddrohungen per Fax, in denen es z.B. heißt „Dir hirntoten Scheißdöner ist offensichtlich nicht bewusst, was du unseren Polizeikollegen angetan hast“. Hessische Sicherheitsbehörden haben Polizeibeamte im Visier, denn die Drohschreiben enthalten Insiderwissen der hessischen Polizei. Was bedeutet es für den Zustand von Staat und Gesellschaft, dass die Beleidigung und Bedrohung einer türkeistämmigen deutschen Juristin möglicherweise in deutschen Amtsstuben ausgeheckt wurden? Deutlichere Indizien für einen weit verbreiteten Alltagsrassismus sind kaum vorstellbar.
Rassismus mit seinen Varianten Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antizionismus, Antiziganismus und Homophobie, „Islamkritik“ oder Kulturrassismus ist überall präsent und bildet ein – gern geleugnetes oder nicht zur Kenntnis genommenes – gesellschaftliches und politisches Problem: Die Ausgrenzung von „Fremden“, der Hass gegen Migranten, die Wut über Muslime, die intolerante, undemokratische und unchristliche Haltung gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern haben den Umgang der Mehrheit untereinander verändert. Der Auftrieb rechtsradikaler Populisten beschädigt die Demokratie und die Stabilität unseres Staats- und Gesellschaftssystems.
Aufklärung über Positionen und Phänomene, Argumente und Parolen des Rassismus ist notwendig, um ihm entgegentreten zu können. Aufklärung über alltäglichen Rassismus soll in diesem Band geleistet werden durch Informationen über dessen historische Wurzeln, seine aktuellen Erscheinungsformen, über Akteure und Schauplätze, ideologische Komponente und strukturelle Voraussetzungen und emotionale Dispositionen.
Das Buch möchte verstanden werden als Kompendium, das Fakten und Begriffserklärungen bietet, Zusammenhänge erläutert, politische und soziale Dimensionen von Ressentiments auslotet und anhand von Ereignissen den Blick für rassistische Vorurteile und Feindbilder sowie deren Wirkungen schärft, damit alltäglichem Hass und daraus entstehender Gewalt begegnet werden kann.
Berlin, Februar 2019
I. Ressentiments und Methoden der Ausgrenzung
Vorurteile und Feindbilder
Vorurteile äußern sich vor allem als Zuschreibung von Eigenschaften, die unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Individuen, Personengruppen, Ethnien, Nationen bestimmen – als „geschäftstüchtige Juden“, „diebische Zigeuner“, „eroberungssüchtige Muslime“, „unzuverlässige Levantiner“, „kriminelle Albaner“ usw. Bausteine des Ressentiments sind Stereotype, die geläufige Vorstellungen von Personen, Kollektiven, oder auch Sachverhalten und Dingen fixieren. Stereotype, zu Formeln erstarrte Beschreibungen, besser: Zuschreibungen, erlauben rasche und nicht reflektierte Einordnung und Erklärung, sie sind in der Regel langzeitig tradiert. Das Stereotyp entzieht sich analytischem Zugriff, denn es tritt an dessen Stelle, wird nicht hinterfragt und braucht keine Begründung. Der Angehörige einer bestimmten Ethnie ist deshalb durch stereotype Klischees ein für alle Mal als listig oder verschlagen, als faul oder berechnend charakterisiert. Natürlich gibt es auch positive stereotype Bilder wie z.B. die „schöne Jüdin“ oder den „edlen Magyaren“. Funktion und Wirkung von Vorurteilen sind unabhängig von ihrer positiven oder negativen Belegung. Die pejorativen, d.h. herabsetzenden Stereotype überwiegen in der gesellschaftlichen Realität, dementsprechend sind Vorurteile in der Regel an unangenehmen Eigenschaften verankert und entfalten vor allem negative Wirkung.
Vorurteile spielen im privaten Alltag wie im öffentlichen Leben die Rolle von Katalysatoren für individuelle und kollektive Ängste, Frustrationen und Aggressionen. Vorurteile verdichten sich zu Feindbildern, die als Bestandteile politischer Ideologien instrumentalisiert werden. Das negative Fremdbild steht am Anfang der agierten Feindseligkeit, die als individuelles fremdenfeindliches Delikt, als gemeinsamer Angriff gegen stigmatisierte Minderheiten, als kollektive Raserei gegen Fremde bis hin zum organisierten und geplanten Völkermord zum Ausdruck kommt.
Diese Funktionen und Wirkungen können an historischen und aktuellen Beispielen verdeutlicht werden. Fremdenfeindliche Konstrukte aus tradierten Vorurteilen und instrumentalisierten Feindbildern gehörten beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 zur Ausrüstung wie im Kalten Krieg nach 1945 zum Waffenarsenal, sie bildeten auch eine wesentliche Motivation bei der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und benachbarten Siedlungsräumen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Alte und neue antisemitische Stereotype, die die Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen vorbereiteten und ermöglichten – die semantische Grundlegung des Völkermords an den europäischen Juden erfolgte durch Begriffsbildungen wie „Judenfrage“ und „Endlösung“ –, gehören ebenso zum Aufgabenfeld der Vorurteilsforschung wie literarische Traditionen und Denkstrukturen der Verweigerung gegenüber Angehörigen fremder Kulturen wie z.B. Muslimen, Afrikanern, Roma, Asylbewerbern usw.
Ressentiments sind gefährlich, weil sie als Vorurteil beginnen mit der Tendenz, im Hass gegen stigmatisierte Individuen, gegen Gruppen, ethnische, religiöse oder nationale Gemeinschaften zu kulminieren, in Hass, der sich durch Gewalt entlädt. Ressentiments schaffen der Mehrheit, die sie lebt und agiert, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Überlegenheit auf Kosten von Minderheiten, die definiert, diskriminiert, ausgegrenzt werden Die Ausgrenzung stiftet Gemeinschaftsgefühl und bietet außerdem schlichte Welterklärung in einem System von Gut und Böse, in dem beliebige Minderheiten – z.B. Juden, Migranten, Muslime, „Zigeuner“, Ausländer schlechthin – für Missstände, Bedrohungen (bzw. Bedrohungsängste), Mangel, Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht sind.
Die Ausgrenzung von Minderheiten erfolgt durch Vorurteile und über Feindbilder. Im 19. Jahrhundert entstand der „moderne Antisemitismus“ als Ideologie in Traktaten und Schriften, in denen stereotyp argumentiert wurde, dass Juden Fremde seien, deren Ansprüche auf Herrschaft und Dominanz abgewehrt werden müssten. Wilhelm Marr, einer der Begründer des Rassenantisemitismus argumentierte: „Ein Volk von geborenen Kaufleuten unter uns, die Juden, hat eine Aristokratie, die des Geldes, geschaffen, welche alles zermalmt von oben her, aber, zugleich auch eine kaufmännische Pöbelherrschaft, welche durch Schacher und Wucher von unten herauf die Gesellschaft zerfrisst und zersetzt. Zwischen der semitischen Oligarchie und der dito Ochlokratie [Pöbelherrschaft] wird die Gesellschaft zerrieben wie Korn zwischen zwei Mühlsteinen.“ Das war um das Jahr 1880. In der Gegenwart behauptet ein Feind des Islam, der von Interessenten als Experte gehandelt wird, der Buchautor Hans-Peter Raddatz: „Ein Christ mißbraucht seine Religion, wenn er Gewalt anwendet, und ein Muslim mißbraucht seine Religion ebenso, wenn er Gewalt nicht anwendet.“ Raddatz unterstellt damit, Muslime seien durch Gebote ihrer Religion zu Bösem verpflichtet. Ähnlich trieben einst die Propagandisten des Antisemitismus Talmudhetze, d.h. sie behaupten, es gäbe für Juden Anweisungen in den religiösen Schriften, Böses zu tun.
Eine Neuauflage des alten Vorurteils gegen eine andere Gruppe ist die Warnung vor Eroberung und Dominanz. Gegen die Juden hatte es einst geheißen: „Die Juden bilden unter dem Deckmantel der ,Religion‘ in Wahrheit eine politische, sociale und geschäftliche Genossenschaft, die, im heimlichen Einverständnis unter sich, auf die Ausbeutung und Unterjochung der nichtjüdischen Völker hinarbeitet.“ Das stand im weitverbreiteten „Antisemiten-Katechismus“ des Theodor Fritsch (1852 – 1933), der auch das folgende Klischee bediente: „Durch seine besonderen Sitten-Gesetze