Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Amartya Sen
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Diese Themen, die die Grundlagendisziplin der moralphilosophischen Kritik betreffen, werden später in Abschnitt IX in Beantwortung der Frage (6) untersucht. Doch zunächst ist in Beantwortung der ersten Frage festzuhalten, dass Behauptungen, die man über Menschenrechte aufstellt, durch und durch moralische Artikulationen sind, und dass sie insbesondere keine vermeintlichen Rechtsansprüche darstellen, trotz beträchtlicher Verwirrungen hinsichtlich dieses Punkts, die nicht zuletzt durch Jeremy Bentham hervorgerufen wurden, der wie besessen auf die aus seinen Augen rechtlichen Anmaßungen eindrosch. (Ich werde später in diesem Abschnitt auf die Art der damit verbundenen Fehleinschätzung zurückkommen.)
Eine Behauptung, die man zu Menschenrechten aufstellt, schließt die Aussage mit ein, dass die mit diesen Rechten verbundenen Freiheiten wichtig sind – also jene Freiheiten, die in der Formulierung der in Frage stehenden Rechte bestimmt und privilegiert werden – und sie wird tatsächlich durch diese Wichtigkeit motiviert. So rührt beispielsweise das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden, aus der Bedeutung her, die die Freiheit von Folter11 für alle hat. Doch mit der Behauptung wird darüber hinaus zugleich die Notwendigkeit bekräftigt, dass andere überlegen müssen, was sie vernünftigerweise tun können, um für jeden die Freiheit von Folter sicherzustellen. An einen potentiellen Folterer gerichtet ist die Forderung natürlich ziemlich einfach, nämlich die Folter zu unterlassen und von ihr abzusehen. Die Forderung weist die klare Form dessen auf, was Immanuel Kant12 als vollkommene Pflicht bezeichnete.13 Doch auch für andere (d. h. für diejenigen, die nicht die potentiellen Folterer sind) bestehen Pflichten, wenngleich sie weniger spezifisch sind und in der allgemeinen Form von »unvollkommenen Pflichten« auftreten (um einen weiteren kantischen Begriff zu bemühen).14 Die genau spezifizierte Forderung, niemanden zu foltern, wird um die allgemeinere und weniger exakt spezifizierte Forderung ergänzt, über die Möglichkeiten und Mittel nachzudenken, durch die Folter verhindert werden kann, und dann zu entscheiden, was man also vernünftigerweise tun sollte. Das Verhältnis zwischen Menschenrechten, Freiheiten und Pflichten wird in den Abschnitten IV bis VI näher untersucht.
Obgleich die Anerkennungen von Menschenrechten (mit ihren damit verbundenen Ansprüchen und Pflichten) moralische Bekenntnisse darstellen, müssen sie nicht allein bereits eine vollständige Blaupause für eine wertende Beurteilung liefern. Eine Übereinkunft über Menschenrechte schließt durchaus eine feste Verpflichtung ein, nämlich dazu, angemessen über die Pflichten nachzudenken, die aus dieser moralischen Zustimmung folgen. Doch auch wenn man sich über diese Bekenntnisse einig sein sollte, kann es, insbesondere im Fall von unvollkommenen Pflichten, immer noch zu ernsthaften Debatten darüber kommen, (i) wie man den Menschenrechten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit am besten erweisen sollte, (ii) wie die verschiedenen Arten von Menschenrechten gegeneinander abgewogen und ihre jeweiligen Ansprüche gemeinsam eingebunden werden sollten, und (iii) wie die Ansprüche der Menschenrechte mit anderen wertenden Anliegen verbunden werden sollten, die vielleicht ebenfalls moralische Aufmerksamkeit verdienen, usw.15 Eine Theorie der Menschenrechte kann Raum für weitere Diskussionen, Kontroversen und Streit lassen. Der Ansatz des freien, öffentlichen Diskurses, der für das Verständnis der Menschenrechte, wie es hier vorgeschlagen wird, von zentraler Bedeutung ist, kann sicherlich einige Streitfragen über den Umfang und Inhalt der Rechte klären (einschließlich der Bestimmung einiger klar tragfähiger Rechte und anderer, die schwer aufrechtzuerhalten wären), muss jedoch vielleicht andere Fragen, zumindest vorläufig, offenlassen.16 Die Zulässigkeit eines Bereichs, in dem anhaltende Kontroversen ausgetragen werden, ist für eine Theorie der Menschenrechte kein Zeichen von Schwäche.17
Im Zusammenhang mit der praktischen Anwendung von Menschenrechten sind solche Debatten natürlich ziemlich verbreitet und vollkommen üblich, besonders unter Menschenrechtsaktivisten. Hier wird jedoch die Auffassung vertreten, dass die Möglichkeit, solche Debatten zu führen – ohne die grundlegende Anerkennung der Bedeutung der Menschenrechte zu verlieren –, nicht nur ein Merkmal dessen ist, was man als Menschenrechtspraxis bezeichnen kann, sondern dass sie sogar Teil des allgemeinen Sachgebiets bzw. der Disziplin der Menschenrechte ist, einschließlich der ihr zugrunde liegenden Theorie (statt ein Zeichen von Schwäche für diese Disziplin zu sein). Die Anerkennung der Notwendigkeit, dass man die Menschenrechte moralisch berücksichtigen muss, macht solche Diskussionen keineswegs überflüssig, sondern lädt in Wirklichkeit zu ihnen ein. Eine Theorie der Menschenrechte kann daher erhebliche interne Unterschiede zulassen, ohne dadurch die Gemeinsamkeit des vereinbarten Prinzips zu verlieren, dass den Menschenrechten (und den dazugehörigen Freiheiten und Pflichten) eine wesentliche Bedeutung beigemessen werden muss und man dazu verpflichtet ist, ernsthaft zu überlegen, wie dieser Bedeutung angemessen Rechnung getragen werden sollte.
Derartige Unterschiede stellen nicht nur kein Zeichen von Schwäche dar, sondern sie begegnen tendenziell standardmäßig in allen allgemeinen, normativen Ethiktheorien. Tatsächlich lässt sich eine ähnliche Vielfalt innerhalb der nutzenzentrierten Ethik feststellen, auch wenn dieses Merkmal jener großen ethischen Disziplin häufig geringe oder keine Beachtung findet. Im Fall der nutzenbasierten Argumentation können sich Unterschiede nicht nur aus den unterschiedlichen Arten, wie man Nutzen interpretieren kann, ergeben (als Freuden, Wunscherfüllungen oder Umsetzungen von Entscheidungen),18 und auch nicht nur aus der anerkannten Heterogenität der Nutzen selbst (die sowohl von Aristoteles als auch von John Stuart Mill19 klar erkannt wurde).20 Vielmehr können sie sich auch aus den vielfältigen Weisen, wie Nutzenwerte verwendet werden können, ergeben, sei es durch bloße Addition oder durch Multiplikation (nach angemessener Normalisierung) oder durch die Addition konkaver Transformationen von Nutzenfunktionen, die allesamt innerhalb der Disziplin der nutzenbasierten Bewertung vorgeschlagen und weiter ausgearbeitet wurden.21 Darüber hinaus kann die Disziplin der interpersonellen Nutzenvergleiche selbst alternative Verfahren der Nutzenquantifizierung zulassen und problemlos dabei gleichzeitig zulässigen Abweichungen innerhalb bestimmter Klassen »teilweiser Vergleichbarkeit« Rechnung tragen.22 Dass es unterschiedliche Arten gibt, nutzenbasierte Argumentationen und alternative utilitaristische Verfahren anzuwenden, entkräftet nicht den allgemeinen Ansatz der nutzenzentrierten Ethik oder unterminiert ihn gar. Ebenso wenig wird die Ethik der Menschenrechte durch interne Unterschiede, die sie zulässt und einbindet, aufgehoben oder konterkariert.
Die Analogie zwischen Artikulationen von Menschenrechten und utilitaristischen Behauptungen oder Erklärungen ist daher durchaus klar ersichtlich, obwohl es dem großen Begründer des modernen Utilitarismus, Jeremy Bentham, gelang, diesen Zusammenhang in seinem klassischen Verriss der natürlichen Rechte im Allgemeinen und der »Rechte des Menschen« im Besonderen, vollkommen zu übersehen. Bentham glaubte, der angemessene Vergleich sei der zwischen der jeweiligen rechtlichen Bedeutung von (1) Menschenrechtserklärungen und (2) tatsächlich gesetzlich erlassenen Rechten. Kaum überraschend stellte er fest, dass ersteren im Wesentlichen der gesetzliche, rechtsgültige Status fehlte, wie ihn letztere mehr als offensichtlich aufwiesen. Benthams Zurückweisung der Menschenrechte folgte daher erstaunlich prompt.
Das Recht, das substantielle Recht, ist Kind des Gesetzes; aus realen Gesetzen gehen reale Rechte hervor; doch aus eingebildeten Gesetzen, aus dem »Naturgesetz« [können nur] »eingebildete Rechte« hervorgehen.23
Es ist unschwer zu erkennen, dass Benthams Zurückweisung der Idee natürlicher »Rechte des Menschen« im Wesentlichen von einer Rhetorik abhängt, die einen bevorzugten Gebrauch von dem Begriff »Rechte« in seiner spezifisch juristischen Interpretation macht. Doch insofern, als Menschenrechte bedeutsame moralische Ansprüche darstellen sollen, ist der Hinweis darauf, dass sie nicht von sich allein Rechtsgültigkeit oder institutionelle Kraft besitzen, mehr als offensichtlich, aber darüber hinaus auch ziemlich unerheblich für die Disziplin der Menschenrechte.24 Der angemessene Vergleich besteht sicherlich zwischen:
(1) einer nutzenbasierten Ethik (verfochten von Bentham höchstpersönlich), die die intrinsische moralische Bedeutung in Nutzen, hingegen keine moralische Bedeutung in Menschenrechten oder menschlichen Freiheiten sieht (jede Rolle, die letztere im utilitaristischen System einnehmen können,