Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Amartya Sen
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Genauso wie die utilitaristische Ethik darauf beharrt, dass bei der Entscheidung darüber, was getan werden sollte, die Nutzen der betreffenden Personen berücksichtigt werden müssen, verlangt der Menschenrechtsansatz, dass den akzeptierten Menschenrechten moralische Anerkennung zuteilwird (die spezielle Form dieser Anerkennung und ihre Informationsgrundlage wird in den beiden folgenden Abschnitten näher erörtert). Der relevante Vergleich liegt in diesem Gegensatz und nicht in der Unterscheidung zwischen der Rechtsverbindlichkeit gesetzlich erlassener Rechte (für die Benthams Ausdruck »Kind des Gesetzes« eine angemessene Beschreibung ist) und dem Fehlen eines gesetzlichen, rechtsgültigen Status bei einer moralischen Anerkennung von Rechten (ohne jede Gesetzgebung oder rechtliche Neuinterpretation). Tatsächlich wurden, während Bentham 1791 und 1792 noch emsig damit beschäftigt war, seine Zurückweisung von »Rechten der Menschen« zu verfassen, die Reichweite und der Umfang moralischer Interpretationen solcher Rechte schlagkräftig von Thomas Paines26 Rights of Man [Rechte des Menschen] und Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Woman [Eine Verteidigung der Rechte der Frau] untersucht, die beide in der Zeit zwischen 1791 und 1792 veröffentlicht wurden (obwohl anscheinend keine der beiden Schriften Benthams Neugier weckte).27
Ein moralisches Verständnis der Menschenrechte läuft nicht nur der Auffassung zuwider, dass sie rechtliche Ansprüche sind (und dass sie, wie nach Benthams Ansicht, rechtliche Anmaßungen darstellen), sondern es unterscheidet sich auch von einer gesetzeszentrierten Betrachtungsweise der Menschenrechte, die sie so versteht, als würden sie im Wesentlichen Gründe für Gesetze darstellen, gleichsam »Gesetze in Wartestellung«. Moralische und gesetzlich verankerte Rechte weisen selbstverständlich durchaus motivationale Verbindungen auf. In seinem verdientermaßen gefeierten Aufsatz »Are There Any Natural Rights?« [»Gibt es natürliche Rechte?«] hat Herbert Hart die Auffassung vertreten, dass Menschen »hauptsächlich von ihren moralischen Rechten sprechen, wenn sie für deren Aufnahme in ein Rechtssystem eintreten«. Er fügte hinzu, dass das Konzept eines Rechts »zu jenem Zweig der Moraltheorie gehört, der speziell damit befasst ist zu bestimmen, wann die Freiheit einer Person durch die einer anderen Person eingeschränkt werden darf, und so zu bestimmen, welche Handlungen angemessen zum Gegenstand zwingender Rechtsvorschriften gemacht werden können«.28 Während Bentham Rechte als »Kind des Gesetzes« ansah, besteht Harts Ansicht faktisch darin, einige natürliche Rechte als Eltern des Gesetzes zu betrachten: sie motivieren und inspirieren spezifische Gesetzgebungen. Obwohl Hart in seinem Aufsatz die Menschenrechte in keiner Weise erwähnt, lässt sich die Argumentation über die Rolle natürlicher Rechte als Inspiration für Gesetzgebungen auch auf das Konzept der Menschenrechte übertragen.29
Tatsächlich kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Idee moralischer Rechte als Grundlage für neue Gesetzgebungen dienen kann und dies in der Praxis auch häufig getan hat. Sie ist oft auf diese Weise genutzt worden – und dies ist in der Tat eine wichtige Anwendung der Menschenrechte. Genau auf diese Weise wurde zum Beispiel die Analyse von unveräußerlichen Rechten in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung geltend gemacht, was sich später in der Bill of Rights niederschlug – ein Weg, der in der Gesetzgebungsgeschichte vieler Staaten auf der Welt häufig beschritten wurde.30 Die Gesetzgebung zu inspirieren ist sicherlich eine der Weisen, wie die moralische Überzeugungskraft der Menschenrechte konstruktiv eingesetzt worden ist.
Doch anzuerkennen, dass ein solcher Zusammenhang besteht, ist nicht dasselbe, wie der Meinung zu sein, die Bedeutung der Menschenrechte liege ausschließlich darin, zu bestimmen, was »angemessen zum Gegenstand zwingender Rechtsvorschriften gemacht« werden sollte. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Idee der Menschenrechte tatsächlich auch auf einige andere Weisen angewendet werden kann und angewendet wird. Wenn Menschenrechte tatsächlich als schlagkräftige moralische Ansprüche betrachtet werden, ja als »moralische Rechte« (um Harts Ausdruck zu verwenden), dann haben wir sicherlich Grund dazu, in umfassender Weise über verschiedene Wege nachzudenken, um diese Ansprüche zu unterstützen. (Dieser Frage wird in Abschnitt VII näher nachgegangen.) Die Mittel und Wege zur Förderung und Umsetzung von Menschenrechten müssen sich daher nicht darauf beschränken, nur neue Gesetze zu schaffen (wenngleich sich die Gesetzgebung manchmal tatsächlich als der strategisch richtige Weg erweisen kann). So können zum Beispiel das Monitoring und andere Formen der Unterstützung durch Aktivisten, wie sie Organisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International oder OXFAM oder Ärzte ohne Grenzen leisten, ihrerseits dazu beitragen, die effektive Reichweite der anerkannten Menschenrechte zu erhöhen.31 In vielen Zusammenhängen kann es sein, dass die Gesetzgebung tatsächlich keine Rolle spielt.
IV. Rechte, Freiheiten und sozialer Einfluss
Warum sind Menschenrechte wichtig? Da Menschenrechtserklärungen die moralische Notwendigkeit bekräftigen, dass die Bedeutsamkeit der in der Formulierung der Menschenrechte enthaltenen Freiheiten angemessen beachtet werden muss (wie dies im vorangegangenen Abschnitt erörtert wurde), sollte ein angemessener Ausgangspunkt darin bestehen, dass die Bedeutung der Freiheiten der Menschen entsprechend anerkannt wird. Zu beachten gilt dabei, dass, während Rechte Ansprüche nach sich ziehen (insbesondere Ansprüche gegen andere, die in der Lage sind, etwas zu verändern), Freiheiten im Gegensatz dazu in erster Linie beschreibende Merkmale der Lebensumstände von Personen sind.32
Indem wir von der Bedeutung der Freiheiten als der angemessenen conditio humana ausgehen, auf die es sich zu konzentrieren gilt, anstatt auf Nutzen (wie Bentham es tat), erhalten wir nicht nur einen Beweggrund dafür, unsere eigenen Rechte und Freiheiten zu preisen, sondern auch dafür, uns für die wichtigen Freiheiten anderer zu interessieren, und nicht nur für ihre Freuden und Wunscherfüllungen (wie im Utilitarismus). Benthams Beharren darauf, den Nutzen zur Grundlage der moralischen Bewertung zu machen, steht im Gegensatz zu den Gründen dafür, sich stattdessen auf Freiheiten zu konzentrieren. Ich habe andernorts erörtert, warum diese Gründe gewichtig sind und wie die Konzentration auf Freiheiten einige der wichtigsten Fallstricke vermeiden kann, die sich durch eine ausschließliche Konzentration auf Nutzen in Form von Freude oder Wunscherfüllung ergeben. So kann zum Beispiel das utilitaristische Kalkül an Bewertungsverzerrungen kranken, die sich aus der Vernachlässigung der gravierenden Not jener ergeben, die chronisch benachteiligt sind, doch die auf Grund der Umstände lernen, sich schon an kleinsten Dingen zu erfreuen und sich damit abzufinden, ihre Wünsche auf ein »realistisches Maß« herunterzuschrauben (wodurch sie nach dem besonderen Maßstab von Freuden oder Wunscherfüllungen nicht besonders benachteiligt erscheinen).33
Bevor ich auf die schwierige Frage der mit Rechten verbundenen Pflichten eingehe, die ich in Abschnitt VI untersuchen werde, ist es erforderlich, den Zusammenhang zwischen Rechten und Freiheiten etwas näher zu erörtern. Dem werde ich den Rest dieses Abschnittes ebenso wie Abschnitt V widmen. Freiheiten können sich hinsichtlich ihrer Bedeutung und auch hinsichtlich der Frage, inwieweit sie sich mit gesellschaftlicher Unterstützung beeinflussen lassen, voneinander unterscheiden. Um Teil des Bewertungssystems der Menschenrechte zu werden, muss eine Freiheit eindeutig wichtig genug sein, um zu rechtfertigen, dass man von anderen die Bereitschaft verlangt, sorgfältig zu entscheiden, was sie vernünftigerweise tun können, um sie zu fördern. Die fragliche Freiheit muss außerdem eine Plausibilitätsbedingung dahingehend erfüllen, dass andere durch eine solche Interessenahme etwas Wesentliches verändern könnten.
Um in das interpersonale und interaktive Spektrum der Menschenrechte zu fallen, muss eine Freiheit einige »Schwellenbedingungen« der (i) Bedeutung und (ii) der sozialen Beeinflussbarkeit erfüllen. Insofern als die Idee der Menschenrechte eine öffentliche Diskussion und öffentliches Engagement erfordert, wie ich weiter oben bereits angemerkt habe und in Abschnitt IX weiter erörtern werde, geht es in der anzustrebenden Übereinkunft nicht nur darum, ob eine bestimmte Freiheit einer bestimmten Person irgendeine moralische Bedeutung hat (diese Bedingung kann leicht erfüllbar