Pandemie und Psyche. Elisabeth Lukas
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Pandemie und Psyche - Elisabeth Lukas страница 4
Als Kriegskind bin ich in den kargen Nachkriegsjahren aufgewachsen. Deswegen sei mir der folgende kleine Hinweis gestattet: Ich kann mich nicht erinnern, dass damals auch nur ein Kind in unserer Schule übergewichtig war. Essen war rar. Autos gab es noch kaum, Geld für die Straßenbahn hatten wir sowieso nicht, und daher bewegten wir uns ständig. Wir Mädchen waren so spindeldürr (was natürlich auch nicht ideal ist), dass die Mode bauschige Unterröcke erfand, damit wir nicht gar zu mickrig wirkten. Heutzutage erfindet sie Hängekleider, die dicke Bäuche kaschieren sollen.
Eine verschlechterte Wirtschaftslage könnte ein fulminanter Anlass zum Abspecken sein. Im Großen zum Abspecken etwa von Militärausgaben (im Jahr 2019 beliefen sie sich auf 1,92 Billionen = 1.920.000.000.000 Dollar weltweit). Im Kleinen – und da sind wir wieder beim Einzelnen angelangt – u. a. zur Gewichtsreduktion. Das Übergewicht ist einer der größten Feinde sowohl des jungen als auch des alten Menschen. Den Jungen verdirbt es oft die Entfaltung eines gesunden Selbstbewusstseins, den Alten verdirbt es einen Gutteil ihrer Selbständigkeit. Es macht träge, faul und hinfällig. Im mittleren Alter kann man es mit gewissen Vorzügen kompensieren, aber dem Körper zuträglich ist es nie. Und als Ersatzbefriedigung taugt das Essen-in-sich-Hineinstopfen überhaupt nicht. Man muss sich schon um echte liebevolle Beziehungen zu seinen Mitmenschen bemühen, um Befriedigung in der Gemeinschaft zu finden. Gerade wenn sich die Schatten ringsum zusammenziehen, zeichnet sich dies immer deutlicher ab.
Es ist bereits erwähnt worden, dass innere Einstellungen grundlegend sind für unser menschliches Verhalten und letztlich für unsere Persönlichkeitsformung. Sollte es SARS-CoV-2 und Konsorten gelingen, die inneren Einstellungen einer größeren Menge von Personen auf ein ethisch sanft angehobenes Niveau zu hieven, wäre dies ein merkwürdiger und dennoch kalmierender Gedanke.
Die Evolution ist seit jeher nach dem Prinzip verfahren, „Antwort zu geben“. Sie antwortet auf physikalische und chemische Gesetze mit Neubildungen. Sie antwortet auf Mutationen lebender Organismen mit Selektion des sich Bewährenden. Sie antwortet auf Ungleichgewichte mit Austarierung. Zweifellos antwortet sie auch auf Massenverfehlungen des Homo sapiens, und dies ist kein Spaß. Wenn der Konsumwahn und die Überbevölkerung auf unserem Planeten voranschreiten, wird die Evolution Antworten darauf parat haben. Hoffen und beten wir, dass es nicht Antworten wie Pandemien sind.
Dem Tod ins Auge blicken
Reinhardt Wurzel: Adaptation ist die Fähigkeit, sich an variierende Lebensbedingungen, Umstände oder Regeln anzupassen, ohne auf den bisherigen Praktiken und Gewohnheiten zu beharren. In der Natur ist die Eigenschaft der Lebewesen, sich an Veränderungen anpassen zu können, überlebensnotwendig.
Der Mensch ist durch sein mental-kognitives Potenzial für Adaptationen besonders gut gerüstet. Intellekt und Erfindungsgabe helfen ihm, sich fast überall aufzuhalten, heute sogar in einer Raumstation im lebensfeindlichen All. Solange er diese Fähigkeit kontinuierlich ausübt, bleibt er rege und vital.
Die Anpassungsfähigkeit ist eine unschätzbare Hilfe auf dem beschwerlichen Weg durch das Würfelspiel der Zufälle. Wer sie benützt, kann seine Gefühle und Bedürfnisse weitgehend kontrollieren, kann in verschiedenen Umfeldern leben und vieles ertragen. Dies verleiht ihm die Chance, selbst unter widrigen Umständen noch ausgeglichen und erfolgreich zu sein.
Im Zeitalter medialer Vernetzung treffen jedoch schlechte Nachrichten von überall her sofort bei uns ein und stellen unsere Anpassungsfähigkeit auf eine harte Probe.
Weltumspannende Ereignisse wie eine Pandemie lassen geradezu einen wirtschaftlichen und sozialen Tsunami um den Globus laufen, der je nach Lage der Nationen verheerende Folgen nach sich zieht. Intelligente, wohldurchdachte und auf Dauer tragfähige Lösungen zeichnen sich nicht oder allenfalls im Schneckentempo ab, und dies strapaziert unsere Anpassungsfähigkeit enorm. In welcher Hinsicht und woran sollen wir uns jetzt überhaupt anpassen? An gesellschaftliche Abstandsregeln? An horrende Todesszenarien? An ein Leben in ständiger Furcht? Was heißt da Adaptation? Und: Ist in einer solchen Ausnahmesituation vielleicht noch anderes gefragt?
Als geistige Wesen verfügen wir neben unseren kognitiven Instrumenten auch über ein inneres Gespür, über eine „Weisheit des Herzens“. Vielleicht kann sie uns eher Auskunft geben als der ach so scharfe und doch so limitierte Verstand?
Zum Nachdenken:
„Nicht der Stärkste überlebt,
nicht einmal der Intelligenteste,
sondern derjenige, der sich am schnellsten
einem Wechsel anpasst.“
(Charles Messier)
Elisabeth Lukas: Die dräuende Ansteckung kann vorübergehend ein äußeres Auseinanderrücken verordnen, eine Art Zwangsisolation. Dennoch schnellt die innere Verbundenheit der Menschen dadurch eher hoch, wie wir jüngst erlebt haben. Ähnlich, wie sich einst unsere Großeltern bei Bombenangriffen in Kellern aneinandergekuschelt haben, in der Finsternis singend und flüsternd, schluchzend und einander stützend, ähnlich finden sich am Höhepunkt einer Pandemie oder in ähnlichen Notlagen heutzutage Jung und Alt, Freunde und Freundinnen, Lehrer/innen und Schüler/innen bei ihren Videokonferenzen in ihren Wohnzimmern zusammen. Ein moderner Anpassungsvorgang gigantischen Volumens!
Dabei kommt ein Gesichtspunkt zum Vorschein, der uns trösten mag: Die innige Verbundenheit mit unseren Lieben und Liebsten bedarf nicht unbedingt der räumlichen Nähe. Das Band der Zuneigung ist nicht von Distanzen und nicht einmal vom Tod zu durchtrennen. Eine „Herzensweisheit“ gigantischen Volumens!
Der Tod ist ein Thema, dem man tunlichst ausweichen möchte. Dass er plötzlich nach uns greifen könnte, ist erschütternd. Vertieft man sich in die veröffentlichten Statistiken, kann man ihn kaum mehr aus seinen Ängsten verdrängen. Denn selbst dort, wo die Sterblichkeitsraten sinken, haben sie sich zuvor in unseren Köpfen eingenistet und Unruhe gestiftet. Aber machen wir uns nichts vor: Wir haben kein ewiges (irdisches) Leben zu verlieren. Und – um es zu wiederholen – weder Jugend noch Fitness schützen vor Unfällen aller Art.
Es könnte jetzt die perfekte Gelegenheit sein, sich mit der eigenen Vergänglichkeit heroisch auseinanderzusetzen, und das bedeutet unter anderem, den bisherigen Lebenslauf kritisch zu überprüfen. Was war uns gnädig geschenkt? Was ist uns gelungen, was geglückt? Was haben wir erreicht? Worauf können wir stolz sein in unserem Leben? Nichts hindert uns, uns daran aufrichtig zu erfreuen. Das Geschehene wird schließlich mit unserem Lebensende nicht ausradiert. Es bleibt bewahrt in der Geschichte über uns und wirkt weiter in der Welt. Jeder Mensch hinterlässt seine Spuren.
Wahrscheinlich taucht beim Rückblick auf unser bisheriges Leben auch einiges auf, das missglückt ist. Das unvollständig ist. Oder das geplant und erträumt, aber nie