Sozialstaat Österreich (1945–2020). Emmerich Tálos

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Sozialstaat Österreich (1945–2020) - Emmerich Tálos

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      Die Anfänge des österreichischen Sozialstaates datieren ebenso wie die in Deutschland aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Am Beginn der Entwicklung steht in den 1860er Jahren die Einführung der Armenfürsorge in den Kronländern und Gemeinden der Habsburgermonarchie. Zwei Jahrzehnte später wurden in der österreichischen Reichshälfte der Monarchie zum einen verschiedene Arbeitsschutzregelungen (elfstündiger Höchstarbeitstag in Fabriken, Schutzmaßnahmen für Kinder, Jugendliche und Frauen) beschlossen, zum anderen die Sozialversicherung mit den Zweigen der Unfall- und Krankenversicherung (1887/1888) etabliert. Beides kann als Antwort auf die so genannte Arbeiterfrage betrachtet werden, die im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung virulent wurde (siehe Tálos 1982; Hofmeister 1981). Während die Armenfürsorge lange Zeit ein sehr weitmaschiges und kümmerliches soziales Netz für Bedürftige bildete, erfuhr die Sozialversicherung noch in der Monarchie mit der Einführung der Pensionsversicherung für Privatangestellte (1907) einen weiteren Ausbau. Mit der Schaffung der Sozialversicherung wurde in der Monarchie der Grundstein für die Tradition einer an Erwerbsarbeit gebundenen sozialen Sicherung gelegt.

      Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur. Mit Kriegsausbruch wurde der Arbeitsschutz gelockert und der Arbeitsmarkt militarisiert. Das kriegsinduzierte soziale Massenelend führte gegen Kriegsende zu selektiven Verbesserungen im Bereich der Kranken- und Unfallversicherung sowie zu ersten staatlichen Eingriffen im Wohnungswesen. Bedeutsam war die Schaffung des k.k. Ministeriums für soziale Fürsorge im Jahr 1917, aus dem später das Staatsamt bzw. ab 1920 das Bundesministerium für soziale Verwaltung hervorging. Es war eines der ersten Sozialministerien weltweit, das über umfangreiche Kompetenzen in praktisch allen Bereichen staatlicher Sozialpolitik verfügte (Obinger 2018, 2020).

      Nach dem Zusammenbruch der Monarchie erfolgte unter veränderten politisch-institutionellen Rahmenbedingungen ein Quantensprung in der Sozialpolitik. Zunächst stand die soziale Kriegsfolgenbewältigung im Vordergrund. Das Invalidenentschädigungsgesetz (1919) und das Invalideneinstellungsgesetz (1920) zielten auf die Unterstützung und Wiedereingliederung der ca. 250.000 Kriegsinvaliden und Hinterbliebenen (Pawlowsky/ Wendelin 2015). Noch im November 1918 wurde im Kontext der Demobilisierung und der Abwicklung der Rüstungsindustrie eine provisorische Arbeitslosenfürsorge geschaffen, die 1920 schließlich durch eine gesetzlich geregelte Arbeitslosenversicherung ersetzt wurde. Weitere sozialpolitische Meilensteine waren die Einführung des Acht-Stunden-Tages, die Einführung von Betriebsräten und Kollektivverträgen, die Schaffung eines Arbeiterurlaubs und der Krankenversicherung der Staatsbediensteten, Verbesserungen im Arbeitsrecht und die Errichtung von Arbeiterkammern. Der Ausbau in den 1920er Jahren betraf die Angestelltenversicherung (1926) und die Einbeziehung der Land- und Forstarbeiter in die Sozialversicherung (1927). Die Alterssicherung für Arbeiter wurde zwar 1927 gesetzlich verankert, trat jedoch aus finanziellen Gründen nicht in Kraft. Nach der Annexion Österreichs durch den Nationalsozialismus galten mit dem Inkrafttreten der deutschen Reichsversicherungsordnung deren Bestimmungen über die Alterssicherung ab 1.1.1939 auch für österreichische Arbeiter.

      An der beschriebenen Entwicklung ist die Berufsgruppenorientierung und -fragmentierung der österreichischen Sozialversicherung seit ihren Anfängen ersichtlich.

      Kam es bereits während des Ersten Weltkrieges zu einzelnen Rückschlägen, so verstärkt noch während der Diktaturen 1933 bis 1938 und 1938 bis 1945 (siehe Tálos 2000b; 2013). Unter demokratischen Bedingungen hielt sich der von den bürgerlichen Regierungen und den Unternehmerverbänden in den 1920er/Beginn der 1930er Jahre forcierte sozialpolitische Abbau realiter noch in Grenzen. Dies änderte sich während des Austrofaschismus, mehr noch des Nationalsozialismus. Im Kontext massiver wirtschaftlicher Probleme und eines hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit beschritten die Regierungen Dollfuss und Schuschnigg den Weg weitreichender Leistungskürzungen, da höhere Zuschüsse zu den Sozialversicherungseinrichtungen aus dem Budget und höhere Beiträge der Unternehmen dezidiert ausgeschlossen wurden. Kürzungen betrafen alle einschlägigen Sozialversicherungsbereiche und übertrafen alle bis dahin getroffenen restriktiven Maßnahmen. Sie beliefen sich beispielsweise in der Pensionsversicherung der Angestellten (differenziert nach Dienstjahren) bis auf 22%. Die Freien Gewerkschaften und die betriebliche Interessenvertretung wurden ausgeschaltet, kollektivvertragliche und gesetzliche Bestimmungen in den Betrieben nicht eingehalten. Das soziale Fiasko des Austrofaschismus hatte die Hoffnungen auf Alternativen befördert: „Brot und Arbeit“ lautete eine bekannte Losung der illegalen Nationalsozialisten.

      Mit den ab März 1938 ergriffenen Maßnahmen zur sozialpolitischen Angleichung Österreichs an den deutschen Nationalsozialismus hatten die inhaltlichen Konturen staatlicher Sozialpolitik in Österreich neuerlich merkbare und einschneidende Veränderungen erfahren. Diese bewegten sich zum Teil in Richtung des bereits durch den Austrofaschismus eingeschlagenen und 1933 bis 1938 realisierten Weges. Beispiele dafür sind die gänzliche Ausschaltung der außerbetrieblichen und betrieblichen Interessenorganisierung der Arbeiterschaft und der Betriebsräte sowie der traditionellen Formen gesellschaftlicher Konfliktaustragung. Die Veränderungen in der Zeit des Nationalsozialismus gingen darüber hinaus, was am Arbeitsrecht, an der Arbeitseinsatz- und Lohnpolitik, vor allem aber an der rassistisch und eugenisch begründeten Ausgrenzungs- und Diskriminierungspolitik deutlich erkennbar ist, die bis hin zum Massenmord reichte. Bei der Übertragung der im Nationalsozialismus geltenden sozialpolitischen Normen auf Österreich kamen auch alte Traditionen der deutschen Sozialpolitik, so vor allem in der Sozialversicherung (z.B. Alterssicherung der Arbeiter), zum Tragen. Diese waren vom Nationalsozialismus nach 1933 weitgehend unverändert fortgeschrieben worden. Auch die pronatalistisch motivierte völkische Familienpolitik (z.B. Ehestandsdarlehen, Kindergeld) wurde auf die „Ostmark“ übertragen.

      Die staatliche Sozialpolitik bildete vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1945 einen wesentlichen Angelpunkt divergierender gesellschaftspolitischer Optionen. Ihr Entwicklungsprozess ist von konfligierenden politischen und gesellschaftlichen Interessen wie deren Kräfteverhältnisse bestimmt. Dies zeigt sich an Schüben, Stagnationen und Brüchen im Entwicklungsverlauf. Im Vergleich dazu weist die Sozialpolitik in der Zweiten Republik zumindest bis in die 1980er Jahre hinein keine vergleichbaren Diskontinuitäten auf (siehe Tálos/Wörister 1994, 33 ff.).

      Dass der Ausbau des österreichischen Sozialstaates nach 1945 im Wesentlichen erst in den 1950er Jahren in Gang kam, hing nicht nur mit dem prekären ökonomischen Kontext in den Nachkriegsjahren zusammen. Nach Kriegsende ging es vor allem darum, die reichsrechtlichen, ab 1939 in Kraft getretenen Regelungen durch österreichisches Recht zu ersetzen. Die „Austrifizierung“ wurde im sozialpolitischen Bereich schrittweise vollzogen. Alternativen zur Tradition einer erwerbsarbeitsbezogenen Sozialversicherung wurden zwar in der Nachkriegszeit – mit Blick auf den strukturellen Umbau der Sozialversicherung in anderen europäischen Ländern wie Großbritannien und Schweden – von der Sozialdemokratie unter dem Schlagwort „Volksversicherung“ ansatzweise thematisiert, jedoch realiter nicht ernsthaft verfolgt.

      Die staatlichen Aktivitäten im Bereich der sozialen Sicherung kreisten vorerst zum einen um Fragen der Fürsorge für die Opfer des Krieges und des Faschismus. Das Invalideneinstellungsgesetz (1946) und das Kriegsopferversorgungsgesetz (1949) knüpften an die Gesetzgebung der Ersten Republik an (Obinger/Grawe 2020). Die Versorgung der Opfer politischer Verfolgung wurde mit den Opferfürsorgegesetzen 1945 bzw. 1947 geregelt, wobei der Empfängerkreis zunächst eng gezogen war. Das Gewicht dieser Programme ist daran ablesbar, dass vom Sozialbudget des Bundes im Jahr 1950 40% für die Kriegsgeschädigtenfürsorge aufgewendet worden waren. Zum anderen ging es um konkrete Probleme wie die Erhaltung des Niveaus verschiedener Leistungen durch Anpassungen an die Preis- und Lohnentwicklung, die Reetablierung der Organisation der Sozialversicherung mit ihrer Selbstverwaltungsstruktur und die Bewältigung von Finanzierungsproblemen.

      Im Anschluss an die wirtschaftliche Wiederaufbauphase zu Beginn der 1950er Jahre lässt sich ein bemerkenswerter Ausbau in allen relevanten Sozialpolitikbereichen konstatieren. Die Erweiterung des Arbeitsschutzes ist vor allem an Maßnahmen wie der Verkürzung der Arbeitszeit ersichtlich. Nach der Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf dem Weg eines Generalkollektivvertrages (von 48 auf

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