Das Tal des Grauens. Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Das Tal des Grauens - Arthur Conan Doyle страница 5
Die Augen des Inspektors nahmen einen abwesenden Ausdruck an.
»Sollten wir nicht lieber ...« sagte er.
»Wir sind gerade dabei«, unterbrach ihn Holmes. »Alles, was ich sage, hat einen sehr unmittelbaren und wichtigen Bezug zu dem, was Sie das Rätsel von Birlstone genannt haben. In der Tat könnte man es in gewissem Sinne geradezu als sein Zentrum bezeichnen.«
MacDonald lächelte schwach und sah mich flehend an.
»Ihre Gedanken bewegen sich ein bißchen zu schnell für mich, Mr. Holmes. Sie lassen ein oder zwei Glieder aus, und ich kriege die Lücke nicht zusammen. Was in aller Welt soll der Zusammenhang sein zwischen diesem toten Herrn Maler und der Sache in Birlstone?«
»Jeder Wissenszweig ist für den Detektiv von Nutzen«, bemerkte Holmes. »Besonders die triviale Tatsache, daß im Jahre 1865 ein Bild von Greuze mit dem Titel La Jeune Fille à l'Agneau bei der Portalis-Auktion nicht weniger als viertausend Pfund8 erzielt hat, dürfte doch in Ihrem Kopf eine Reihe von Überlegungen in Gang setzen.«
Das tat sie ganz offensichtlich. Der Inspektor machte ein unverhohlen interessiertes Gesicht.
»Ich darf Sie daran erinnern«, fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors sich aus mehreren zuverlässigen Nachschlagewerken ermitteln läßt. Es beträgt siebenhundert Pfund im Jahr.«
»Wie kommt er dann in den Besitz ...«
»Ganz recht. Wie kommt er dazu?«
»Tja, das ist bemerkenswert«, sagte der Inspektor gedankenvoll, »Sprechen Sie weiter, Mr. Holmes. Die Sache gefallt mir. Das klingt gut.«
Holmes lächelte. Aufrichtige Bewunderung ließ ihn immer auftauen – ein Kennzeichen des wahren Künstlers.
»Und was ist mit Birlstone?« fragte er.
»Wir haben noch Zeit«, sagte der Inspektor; er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Mein Wagen steht vor der Tür, und zur Victoria Station brauchen wir keine zwanzig Minuten. Aber nochmal zu dem Bild – mir war, Mr. Holmes, als ob Sie mir mal erzählt hätten, daß Sie Professor Moriarty noch nie begegnet sind.«
»Nein, noch nie.«
»Woher wissen Sie dann über seine Wohnung Bescheid?«
»Oh, das steht auf einem anderen Blatt. In seiner Wohnung bin ich bereits dreimal gewesen; zweimal habe ich unter verschiedenen Vorwänden auf ihn gewartet und bin vor seiner Rückkunft wieder fortgegangen. Einmal – tja, davon dürfte ich einem Kriminalbeamten eigentlich gar nicht erzählen. Beim letzten Mal habe ich mir nämlich die Freiheit genommen, rasch seine Unterlagen zu überfliegen, was zu höchst unerwarteten Resultaten geführt hat.«
»Sie haben etwas Kompromittierendes gefunden?«
»Absolut nichts. Das war ja das Verblüffende. Wie auch immer, Sie haben jetzt den springenden Punkt bezüglich des Gemäldes erkannt. Es weist ihn als sehr vermögenden Mann aus. Aber wie kommt er zu diesem Vermögen? Er ist unverheiratet. Sein jüngerer Bruder ist Bahnhofsvorsteher9 im Westen von England. Sein Lehrstuhl bringt ihm siebenhundert im Jahr. Aber er besitzt einen Greuze.«
»Und weiter?«
»Die Schlußfolgerung ist doch wohl einfach.«
»Sie meinen, er hat hohe Einkünfte und muß sie sich auf illegale Weise verschaffen?«
»Ganz genau. Selbstverständlich habe ich noch weitere Gründe zu diesem Verdacht – Dutzende dünnster Fäden, die kaum wahrnehmbar zum Zentrum des Netzes hinführen, wo die giftige, regungslose Kreatur auf der Lauer liegt. Ich erwähne den Greuze auch nur, weil er die Sache in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen rückt.«
»Tja, Mr. Holmes, ich gebe zu, was Sie da sagen, ist interessant. Mehr als interessant – es ist geradezu wunderbar. Aber lassen Sie uns ein wenig deutlicher werden, wenn möglich. Handelt es sich um Fälscherei, Falschmünzerei oder Einbrüche? Woher kommt das Geld?«
»Haben Sie schon mal was über Jonathan Wild gelesen?«
»Naja, also der Name kommt mir vertraut vor. Jemand aus 'nem Roman, oder? Ich mach mir nicht viel aus Detektiven in Romanen – diese Burschen kriegen immer alles raus und lassen einen nie dahinterkommen, wie sie's anstellen. Bei denen ist alles bloß Eingebung und keine solide Arbeit.«
»Jonathan Wild war kein Detektiv, und er kommt auch nicht in einem Roman vor. Er war ein meisterlicher Verbrecher und hat im vorigen Jahrhundert gelebt – so um 1750 herum.«
»Dann nützt er mir nichts. Ich bin ein Mann der Praxis.«
»Mr. Mac, das Beste, was Sie für Ihre Praxis im Leben je tun könnten, wäre, sich zwölf Monate lang einzuschließen und täglich zwölf Stunden Kriminalhistorie zu studieren. Alles wiederholt sich in Zyklen, selbst Professor Moriarty. Jonathan Wild10 war die verborgene Kraft hinter der Londoner Verbrecherwelt, an die er seine Intelligenz nebst seiner Organisation für einen fünfzehnprozentigen Anteil verkauft hatte. Das alte Rad dreht sich weiter, und dieselbe Speiche kommt zum Vorschein. Alles ist schon einmal dagewesen und kehrt immer wieder. Ich will Ihnen ein paar Einzelheiten über Moriarty erzählen, die Sie interessieren dürften.«
»Und ob die mich interessieren!«
»Zufällig weiß ich nämlich, wer das erste Glied in seiner Kette ist – dieser Kette mit dem fehlgeleiteten Napoleon am einen Ende, am anderen hundert gebrochenen Schlägern, Taschendieben, Erpressern und Falschspielern, und dazwischen jeder nur erdenklichen Sorte von Verbrechen. Sein Stabchef ist Colonel Sebastian Moran11, ein Mann, der es ebenso wie Moriarty selbst versteht, sich abseits zu halten, auf der Hut zu sein und sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Was glauben Sie, wieviel er dem bezahlt?«
»Lassen Sie hören.«
»Sechstausend im Jahr. Ein gutes Hirn hat seinen Preis, wie Sie sehen – amerikanisches Geschäftsprinzip. Dieses Detail habe ich ganz zufällig erfahren. Das ist mehr, als der Premierminister verdient12. Jetzt haben Sie einen Begriff von Moriartys Einkünften und vom Ausmaß seiner Geschäfte. Und noch etwas. Kürzlich habe ich es mir angelegen sein lassen, einigen von Moriartys Schecks nachzugehen – ganz gewöhnlichen, harmlosen Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen begleicht. Sie waren auf sechs verschiedene Banken ausgestellt. Gibt Ihnen das einen Eindruck?«
»Das ist natürlich sonderbar. Aber was folgern Sie daraus?«
»Er will nicht, daß sich sein Reichtum herumspricht. Kein einzelner Mensch darf erfahren, wieviel er besitzt. Ich hege keinen Zweifel daran, daß er zwanzig Bankkonten unterhält – wobei der Großteil seines Vermögens wohl im Ausland lagert, wahrscheinlich bei der Deutschen Bank oder dem Crédit Lyonnais. Sollten Sie irgendwann einmal ein paar Jahre überschüssige Zeit haben, empfehle ich Ihnen ein Studium des Professor Moriarty.«
Im Verlauf des Gesprächs hatte Inspektor MacDonald sich mehr und mehr beeindruckt gezeigt. Sein Interesse hatte ihn gänzlich in Anspruch genommen. Nun aber beförderte ihn sein praktischer schottischer Verstand