Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells. Andreas Suchanek

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wünschte der Nachwelt alles Glück dieser Erde und versuchte, keine Angst zu haben.

      Tick, tack.

      In diesem Moment hasste er die Zeit. Und liebte sie. Er wollte mehr davon, doch nicht länger Schmerzen verspüren. Wollte loslassen, doch weiter gestalten. Sie sollten seine Worte lesen, doch seine Stimme nie vergessen.

      Die Dunkelheit war heran. Sie kam als sanfte Melodie, die ihn umfing.

      H. G. Wells ließ sein irdisches Leben los, um eins zu werden mit der Ewigkeit. Die Zitadelle nahm ihn auf. Und seine Wacht begann.

      … die andere Seite der Münze.

      »Onna Bugeisha.«

      Ihre Worte waren brüchig. Wie das Papier in der Bibliothek, das vom Alter gezeichnet kaum noch lesbare Schrift enthielt. Die Tinte war verblasst, wie es auch mit Tomoes Kraft geschehen war.

      Die Mauern des Klosters waren ihr Zuhause geworden, boten Schutz, waren jedoch ebenso Gefängnis. Sie blickte aus der Pagode hinaus auf die weiten Felder. Wie oft hatte sie Nächte unter dem Sternenhimmel verbracht. Wie oft darunter gekämpft und Blut vergossen.

      Mit einem Lächeln dachte sie zurück an Sensei Yamamoto. Sein langer weißer Bart, der sich wie ein gefärbter Fluss bis zum Boden schlängelte. Seine hagere Gestalt, die Arme dünn wie morsches Geäst. Doch zog er sein Katana, wurde er zu einem wirbelnden Sturm, dem niemand standzuhalten vermochte.

      Damals hatte es begonnen.

      Aus dem Mädchen war eine Kriegerin geworden.

      Anfangs hatten sie noch ihr Aussehen gelobt. Die alabasterfarbene Haut, das lange schwarze Haar, das bezaubernde Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

      Später war es die Kunst gewesen, mit der sie das Pferd an den Zügeln davonpreschen ließ. Die Genauigkeit, mit der sie einen Pfeil durch ein gefärbtes Blatt schoss. Ihre fließenden Bewegungen beim Kenjutsu, wenn sie das Schwert führte und niemals verlor.

      Und doch, das hatte sie erst viel später begriffen, war sie stets ein Instrument gewesen. Sie hatte das Haupt gebeugt und gedient. Blut vergossen, flammende Pfeile abgefeuert und die Klinge geführt, um Haut zu teilen.

      Das Leben brachte Weisheit, doch ebenso unweigerlich den Tod.

      Mit einundneunzig Jahren war Tomoe noch immer in Bewegung, studierte Schriften und meditierte. Das Ende glitt jedoch auf sie zu wie der Meistersamurai aus den Schatten.

      Gegen diesen Feind konnte sie kein Katana führen, keinen Pfeil schießen, kein Pferd besteigen und davonreiten. Er fand sie überall.

      Tomoe trat aus der Pagode und stellte sich in den Wind. In ihren Händen hielt sie eine Schale mit feinem Grüntee. Es war der dritte Aufguss. Sie sog den Duft des Blattes ein, trank mit vorsichtigen Schlucken.

      Die Luft war warm, doch der Wind hatte aufgefrischt. In der Ferne verdunkelte sich der Himmel. Mit einem Mal lag die Spannung in der Luft, die sie so sehr liebte. Pure Kraft, die davorstand, sich zu entladen. Die Gewalten der Natur, die den Menschen verdeutlichte, dass sie keine Götter waren.

      Es war schön.

      Und grausam.

      Tomoe schritt zurück zum Haupthaus, den Körper kerzengerade, den Rücken durchgestreckt. Ihr Kimono flatterte. Auf ihn gestickt waren Zeichen des Schutzes. Das Kleidungsstück war das Geschenk eines alten Freundes, der längst gegangen war. Doch während sie ein gewöhnlicher Mensch war, hatte er zu jenen gehört, die Magie in sich trugen.

      Gerade noch rechtzeitig erreichte sie den Eingang und trat hinein. Schon fielen die ersten Regentropfen, wurde der Sturm zu einem Raubtier, das seine Wut hinausbrüllte.

      »Ich respektierte dich«, sagte sie leise.

      Das Holz unter ihren Füßen knirschte, als sie nach oben stieg und ihr Zimmer betrat.

      Sie wusste, dass es soweit war.

      Das Alter brachte das Ende.

      Etwas in ihr erzitterte, als strich eine Feder über ihre Seele.

      »So mögen andere die Geschichte gestalten, durch Krieg und Diplomatie«, flüsterte sie.

      Tomoe Gozen, Onna Bugeisha, Kriegerin unter der blutigen Sonne, ergab sich dem Ruf der Ewigkeit.

      Eine Melodie umfing sie, so sanft und erhaben, dass Tränen unter ihren bereits geschlossenen Lidern auf die Wangen rannen. Sie weinte ein letztes Mal.

      Die Zitadelle hieß sie willkommen.

      Und ihre Wacht begann.

      I

      Die Apparatur

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2:Kapitel 1

      1942

      Ein Blitz zuckte.

      Welch ein Hohn, ausgerechnet.

      Ally packte ihren Bruder und zerrte ihn zwischen die Ruinen. Wie war es möglich, dass die verdammten Krauts es hierhergeschafft hatten? Was taten sie hier, in diesem Küstenstädtchen, weitab von allen wichtigen Angriffspunkten?

      »Sie haben uns gesehen«, hauchte Harry angsterfüllt.

      Was das bedeutete, musste er nicht erst sagen. Die vier trugen Gewehre.

      Schüsse peitschten.

      Es war gespenstisch, fast surreal. Der Horizont war tiefschwarz, Blitze zuckten bereits, doch kein Donner erklang. Der Sturm war auf dem Weg, aber bis jetzt nicht hier. Wie ein Stillleben wirkte das Meer, so ruhig, die tintige Schwärze, die Spannung in der Luft. Als hielte die Welt den Atem an, im Angesicht des Schreckens.

      »In die Ruine!«, befahl Ally.

      Ihr Bruder stolperte voran.

      Die Welt verwandelte sich mit jedem Tag etwas mehr in die Hölle. Deutschland befand sich im eisernen Griff einer grauenvollen Ideologie. Spanien ächzte unter Franko. Italien hatte Mussolini. Der Faschismus hielt Europa im Würgegriff.

      England hielt sich tapfer, doch wurde zunehmend bedrängt. Dass die vier Nazis ungesehen die Küste erreicht hatten, sprach Bände.

      »Der Horchposten«, hauchte Harry.

      Seine Stimme klang dumpf in der Kirchenruine.

      »Vermutlich«, sagte Ally nur.

      Das Dorf wirkte unscheinbar, doch sie wusste, dass es einen Horchposten gab, der den Funk der Deutschen auffing und nach London weiterleitete. Dort waren die besten Codeknacker am Werk. Wie gerne hätte Ally etwas dazu beigetragen, den Krieg zu entscheiden. Doch sie besaß keinerlei Fähigkeiten, die nützlich hätten sein können. Im Gegenteil.

      Hatte ihre Anwesenheit die Nazis erst hierhergeführt?

      »Denkst du,

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