Behemoth. Franz Neumann
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Nach dem Zusammenbruch der bayerischen Räterepublik im Jahre 1919 fällten die Gerichte die folgenden Urteile:
407 Personen: Festung
1737 Personen: Gefängnis
65 Personen: Zuchthaus
Jeder Anhänger der Räterepublik, der auch nur im entferntesten mit dem erfolglosen Coup zu tun hatte, wurde abgeurteilt.
Der Gegensatz zur strafgerichtlichen Behandlung des rechtsgerichteten Kapp-Putsches von 1920 hätte nicht vollkommener sein können. 15 Monate nach dem Putsch, am 21. Mai 1921, teilte das Reichsjustizministerium amtlich mit, daß insgesamt in 705 Fällen wegen Hochverrats ermittelt worden war. Davon fielen
412 nach Ansicht der Gerichte unter das Amnestiegesetz vom 4. August 1920, obwohl die Anführer des Putsches von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausdrücklich ausgenommen waren; außerdem waren
108 durch Tod und andere Gründe hinfällig geworden, wurde in
174 Fällen das Verfahren eingestellt, während
11 noch nicht abgeschlossen waren.
Nicht eine einzige Person war bestraft worden. Dabei ist das Bild, das die Statistik zeigt, noch gar nicht vollständig. Von den elf Verfahren, die am 21. Mai 1921 noch schwebten, endete nur eines mit einem Urteil: der frühere Polizeipräsident von Jagow aus Berlin bekam fünf Jahre Ehrenhaft. Als der preußische Staat Jagow die Pension aberkannte, sprach das Oberste Reichsgericht sie ihm wieder zu. Der führende Kopf des Putsches, Dr. Kapp, starb vor Beginn des Verfahrens. Von den übrigen Anführern waren mehrere, wie der General von Lüttwitz und die Majore Papst und Bischoff, geflüchtet; General Ludendorff wurde nicht strafrechtlich verfolgt, weil das Gericht sich dafür entschied, seine Ausrede, er sei nur zufällig dabeigewesen, anzuerkennen; bei General von Lettow-Forbeck, der eine ganze Stadt für Kapp besetzt hatte, wurde erklärt, daß er kein Anführer, sondern lediglich ein Mitläufer gewesen sei.
Das dritte signifikante Beispiel ist die gerichtliche Behandlung des fehlgeschlagenen Hitler-Putsches von 1923 in München.35 Hitler, Pöhner, Kriebel und Weber wurden zu fünf Jahren, Röhm, Frick, Brückner, Pernet und Wagner zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Ludendorff war wieder einmal rein zufällig dabei gewesen und wurde freigesprochen. Obwohl Absatz 9 des Gesetzes zum Schutze der Republik klar und unmißverständlich die Ausweisung jedes des Hochverrats überführten Ausländers bestimmte, setzte der Münchener Volksgerichtshof Hitler mit dem Scheinargument auf freien Fuß, daß er sich trotz seiner österreichischen Staatsbürgerschaft als Deutscher fühle.
Es wäre müßig, die Geschichte der politischen Justiz der Weimarer Republik im Detail zu erzählen. Einige wenige weitere Beispiele mögen genügen. Das Strafgesetzbuch schuf das Verbrechen des »Landesverrats«, um damit den Verrat militärischer oder anderer Geheimnisse an ausländische Agenten zu ahnden. Die Gerichte fanden jedoch prompt eine spezielle politische Verwendung für diese Bestimmung. Nachdem der Versailler Vertrag Deutschland zur Entwaffnung gezwungen hatte, förderte die Reichswehr die Bildung geheimer und illegaler Wehrverbände, der sogenannten Schwarzen Reichswehr. Wenn Liberale, Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten diese Verletzung der internationalen Verpflichtungen wie des deutschen Rechtes (denn der Vertrag war Teil des deutschen Rechtssystems geworden) brandmarkten, wurden sie verhaftet und wegen durch die Presse begangenen Landesverrats angeklagt. Auf diese Weise schützten die Gerichte die illegale und reaktionäre Schwarze Reichswehr. Andererseits wurden von der Schwarzen Reichswehr an angeblichen Verrätern in ihren eigenen Reihen verübte Morde (die berüchtigten Fememorde) entweder überhaupt nicht gesühnt oder mit geringfügigen Strafen geahndet.36
In den Prozessen gegen Nationalsozialisten wurden die Gerichte ausnahmslos zum Resonanzboden für deren Propaganda. Als Hitler bei einem Prozeß gegen eine Gruppe wegen Hochverrats angeklagter nationalsozialistischer Offiziere als Zeuge auftrat, gestattete man ihm, eine zweistündige Brandrede zu halten, die mit Beschimpfungen hoher Regierungsbeamter und Drohungen gegen seine Feinde vollgepackt war, ohne daß er wegen Mißachtung des Gerichts verhaftet worden wäre. Die neuen Techniken der Rechtfertigung und Propagierung des Nationalsozialismus gegen die Weimarer Republik wurden als geeignete Schritte, die kommunistische Gefahr abzuwenden, verteidigt. Der Nationalsozialismus ist ein Hüter der Demokratie, so tönte es, und die Gerichte waren nur zu gern bereit, die oberste Maxime jeder Demokratie und jedes Staates zu vergessen, daß die Zwangsgewalt ein durch seine Armee und Polizei ausgeübtes Monopol des Staates sein muß, und daß eine Gruppe von Privatpersonen oder ein einzelner nicht einmal unter dem Vorwand, den Staat retten zu wollen, zu seiner Verteidigung zur Waffe greifen darf, es sei denn, die souveräne Macht hätte dazu aufgerufen oder ein wirklicher Bürgerkrieg wäre ausgebrochen.
1932 deckte die Polizei eine nationalsozialistische Verschwörung in Hessen auf. Ein gewisser Dr. Best, später ein hoher Beamter des Regimes, hatte einen sorgfältigen Plan für einen coup d’état ausgearbeitet, und schriftliche Beweise dafür lagen vor (die Boxheimer Dokumente).37 Nichts wurde unternommen. Man glaubte Dr. Best, als er erklärte, daß er nur im Falle einer kommunistischen Revolution von seinem Plan Gebrauch machen wollte.
Es ist unmöglich, die Schlußfolgerung zu umgehen, daß die politische Justiz das schwärzeste Kapitel im Leben der deutschen Republik darstellt. Die Reaktion machte mit stetig zunehmender Intensität von der Waffe der ›Rechtsprechung‹ Gebrauch. Darüber hinaus erstreckt sich diese Anklage auf die gesamte Tätigkeit der Justiz, und ganz besonders auf den Wandel im Rechtsdenken und der Position des Richters, der in dem neuen Grundsatz des richterlichen Prüfungsrechts der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gipfelte, eines Mittels zur Sabotierung sozialer Reformen. Die Macht der Richter wuchs hierbei auf Kosten des Parlaments38.
Der Niedergang der Parlamente stellt eine allgemeine Tendenz im Europa der Nachkriegszeit dar. In Deutschland wurde sie aufgrund spezifisch deutscher Verhältnisse, vor allem der monarchistisch-nationalistischen Tradition der Bürokratie, verschärft. Jahre zuvor hatte Max Weber darauf hingewiesen, daß die Sabotage der Macht des Parlaments dann beginnt, wenn dieses Organ aufhört, ein bloßer Honoratioren-Klub zu sein.39 Wenn Abgeordnete einer progressiven Massenpartei gewählt werden und die Gefahr besteht, daß sie die Legislative zu einer Institution für tiefgreifende soziale Veränderungen verwandeln, dann entstehen unweigerlich antiparlamentarische Tendenzen in der einen oder anderen Form. Die Kabinettsbildung wird zu einer überaus schwierigen und heiklen Angelegenheit, denn nun repräsentiert jede Partei eine Klasse, deren Interessen und Anschauungen sich von den anderen stark unterscheiden. So zogen sich zum Beispiel die Verhandlungen zwischen der Sozialdemokratischen Partei, dem katholischen Zentrum, den Demokraten und der Deutschen Volkspartei über vier Wochen hin, ehe die letzte voll verfassungsmäßige Regierung, das Kabinett Müller, im Mai 1928 gebildet werden konnte. Die politischen Differenzen zwischen der Deutschen Volkspartei als Repräsentantin des Unternehmertums und der die Arbeiter repräsentierenden Sozialdemokratischen Partei waren so tiefgehend, daß nur ein sorgsam ausgehandelter Kompromiß sie überhaupt zusammenbringen konnte, während das katholische Zentrum wegen seiner Unzufriedenheit über die ungenügende Ämterpatronage stets im Streit mit den anderen lag.
Ein dermaßen brüchiges Gebilde konnte die Störung seines empfindlichen Gleichgewichts nicht allzu leicht gestatten, und wann immer parlamentarische Prinzipien die Gewichte verschieben mochten, mußte es modifiziert werden. Kritik der Regierungsparteien mußte heruntergespielt werden, und tatsächlich wurde auch nur zweimal vom Tadelsvotum Gebrauch gemacht. Wenn keine Übereinstimmung unter den Parteien erzielt werden konnte, wurden »Kabinette von Fachleuten« (wie das berühmte Kabinett Cuno im Jahre 1923) gebildet, die angeblich über den politischen Parteien und deren Streitigkeiten stehen. Dieses Zerrbild einer parlamentarischen Demokratie wurde zum Ideal der Reaktionäre, denn es erlaubt ihnen, ihre antidemokratische