Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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er kann, Euer Gnaden", antwortete der Gerichtsdiener, indem er sich so anstellte, als spräche er Oliver nach.

      "Hat er Eltern?" fragte Herr Fang.

      "Er sagt, sie seien in seiner frühesten Jugend gestorben, Euer' Gnaden", entgegnete der Gerichtsdiener, indem er auf gut Glück die in solchen Fällen übliche Antwort gab.

      Oliver hob jetzt den Kopf hoch, sah mit flehenden Blicken um sich, und bat leise um einen Schluck Wasser.

      "Quatsch!" sagte Herr Fang. "Willst mich wohl zum Narren halten?"

      "Ich glaube, ihm ist wirklich schlecht, Euer Gnaden", wandte der Gerichtsdiener ein.

      "Ich weiß das besser", brüllte Herr Fang.

      "Halten Sie ihn, Gerichtsdiener", rief der alte Herr, unwillkürlich die Hände ausstreckend, "er fällt gleich."

      "Nichts da, Gerichtsdiener", schrie Herr Fang, "lassen Sie ihn fallen, wenn er Lust hat."

      Oliver machte von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch und fiel ohnmächtig zu Boden.

      "Ich wusste, dass es Verstellung war", sagte Herr Fang. "Lasst ihn liegen, er wird's bald müde werden!"

      "Wie gedenken Sie in diesem Falle zu verfahren, Herr?" fragte leise der Gerichtsschreiber.

      "Summarisch", antwortete Herr Fang. Er wird drei Monate eingesperrt –, natürlich mit harter Arbeit. Schafft ihn fort!"

      Einige Beamte schickten sich gerade an, den bewusstlosen Oliver in seine Zelle zu tragen, als ein ältlicher Mann von anständigem, aber erbärmlichem Äußern atemlos ins Zimmer stürzte und vor den Richter trat:

      "Halt, halt! Tragt ihn noch nicht fort. Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!"

      "Was ist los? Wer sind Sie? Hinaus mit dem Menschen. Räumt den Gerichtssaal!" schrie Herr Fang.

      "Ich will aussagen", rief der Mann. "Ich lasse mich nicht hinauswerfen. Ich sah alles mit an. Ich bin der Besitzer der Bücherbude. Ich verlange vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abweisen. Sie müssen mich anhören, Herr Fang. Sie dürfen mein Zeugnis nicht ablehnen!"

      Der Mann war in seinem Rechte und trat bestimmt auf. Man konnte nicht darüber hinweggehen.

      "Lassen Sie den Menschen schwören", knurrte Herr Fang mürrisch. "Nun, was haben Sie zu bekunden?"

      "Folgendes. Ich sah drei Jungen – diesen hier und zwei andere – auf der anderen Seite der Straße dahinschlendern, als dieser Herr vor meiner Bude stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Jungen begangen. Ich habe es genau gesehen und auch bemerkt, dass dieser Junge hier darüber ganz erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen war!"

      "Warum kamen Sie nicht schon früher?" fragte Fang nach einer Pause.

      "Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierhergeeilt."

      "Also der Ankläger las, nicht wahr?", fragte Fang nach einer weiteren Pause.

      "Ja", erwiderte der Mann, "im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!"

      "So – in diesem Buch? Ist es denn bezahlt?" erkundigte sich Herr Fang.

      "Nein, noch nicht", erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.

      "Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen", sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.

      "Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen", sagte Herr Fang und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.

      "Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal."

      "Donnerwetter", schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch. "Donnerwetter, ich will –"

      "Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?" brüllte der Richter.

      Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und des Trotzes darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Oliver auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblass, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper. "Armes Kind!" sagte Herr Brownlow, als er sich über ihn beugte. "Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?" Man holte einen und bettete Oliver auf einen Sitz, während Herr Brownlow auf dem anderen Platz nahm.

      "Darf ich Sie begleiten?" fragte der Buchhändler.

      "Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren."

      Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.

      Nach ziemlich langer Fahrt hielt die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.

      Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blass erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.

      "Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?" murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.

      "Still, Liebling", sagte die alte Dame sanft. "Du musst dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin." Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, dass er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.

      "Lieber Gott", sagte die Frau mit Tränen in den Augen, "wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte."

      "Vielleicht sieht sie mich", flüsterte Oliver und faltete die Hände. "Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre."

      "Das war das Fieber, Liebling", sagte die alte Dame sanft.

      "Wahrscheinlich", erwiderte Oliver, "denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als dass Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wusste, dass ich krank war, so musste sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir", fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, "denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich

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