Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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      "Das ist ein Mädel, Jungens", sagte der Jude. "Da könnt ihr euch ein Beispiel dran nehmen."

      "Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts", rief Herr Sikes und hob sein Glas. "Sie lebe hoch!"

      Nancy schlug indessen den nächsten Weg zur Polizei ein. Dort angekommen, trat sie durch die Hintertür in das Gebäude ein und klopfte leise mit dem Schlüssel an eine der Zellentüren. Dann horchte sie. Da sich nichts in der Zelle rührte, so hustete sie und horchte wieder. Abermals keine Antwort. Nancy wandte sich daher unmittelbar an den Gerichtsdiener und fragte mit den kläglichsten Jammertönen nach ihrem lieben Bruder.

      "Er ist nicht hier", sagte der alte Gerichtsdiener.

      "Mein Gott, wo ist er denn?" meinte Nancy trostlos.

      "Nun, der Herr hat ihn mitgenommen."

      "Was für ein Herr, um Himmelswillen?" rief Nancy.

      Der Gerichtsdiener erzählte ihr den ganzen Vorgang und schloss damit, dass der alte Herr unweit Pentonville wohne.

      Nancy eilte auf schnellstem Wege zum Juden zurück.

      Sie hatte sich kaum ihres Berichtes entledigt, als Herr Bill Sikes schnell seinen Hund rief, den Hut auf den Kopf stülpte und sich schleunigst ohne Gruß entfernte.

      "Wir müssen Oliver finden", sagte der Jude in großer Aufregung. "Nancy, mein Liebling, ich muss ihn wiederhaben. Auf Sie und den Gannef kann ich mich am besten verlassen. Hier habt ihr Geld. Ich schließe heute Nacht diese Wohnung, ihr wißt ja, wo ihr mich finden könnt. Eilt, zögert keinen Augenblick." Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er hinter ihnen die Tür doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er das Kästchen aus seinem Versteck hervor und verbarg in aller Eile Uhren und Juwelen unter seinen Kleidern.

      "Bis jetzt hat er noch nichts ausgeplaudert", sprach der Jude zu sich, indem er in seiner Arbeit fortfuhr. "Wenn er uns aber bei seinen neuen Freunden zu verpfeifen gedenkt, so werden wir ihm wohl noch das Maul stopfen können."

      Oliver erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Bedwin vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

      "Ja", sagte Frau Bedwin, "es ist fort, wie du siehst."

      "Oh, warum hat man es weggenommen?" versetzte Oliver mit einem Seufzer.

      "Weil Herr Brownlow sagte, dass es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte", entgegnete die alte Dame.

      "Ach nein, es beängstigte mich gar nicht", sprach Oliver, "ich mochte es gern ansehen."

      "Nun, nun, liebes Kind, mache nur, dass du bald wieder gesund wirst", sagte die gute Frau. "Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderem sprechen."

      Oliver hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Bedwin von ihrem verstorbenen Manne und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Oliver im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffasste, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen.

      Die Tage der Genesung waren für Oliver Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, dass er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Brownlow einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Oliver sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Juden zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen.

      Eines Abends, als Oliver plaudernd bei Frau Bedwin saß, ließ Herr Brownlow sagen, dass er Oliver auf seinem Studierzimmer sprechen möchte.

      Frau Bedwin putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Studierzimmers. Oliver klopfte an, und als Herr Brownlow "Herein" rief, trat er in ein kleines, ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Oliver gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.

      "Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?" fragte Herr BrownIow, als er die Neugierde gewahrte, mit der Oliver die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.

      "Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!"

      "Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes – das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist."

      "Das sind gewiss diese schweren da", erwiderte Oliver, indem er auf einige dicke Quartanten mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.

      "Nicht immer", sagte der alte Herr lächelnd.

      "Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?"

      "Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen."

      "Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?"

      Oliver sann eine Weile nach, dann sagte er, es dünkte Ihn weit besser, Buchhändler zu sein.

      Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich darüber, obgleich er nicht wusste, was das Gescheite war.

      "Nun", sagte der alte Herr wieder ernst, "hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt."

      "Ich danke Ihnen", entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Oliver nicht besonders achtgab, da er sie nicht verstand.

      "Nun, mein Sohn", fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, "du musst jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!"

      "Ach, sagen Sie nur nicht, dass Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, dass ich wieder auf den Straßen herumwandern muss. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!"

      "Mein liebes Kind", sagte der alte Herr gerührt, "hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen,

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