Auschwitz vor Gericht. Werner Renz
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Der Prozess gegen Martin Sommer vor dem Landgericht Bayreuth (11.6.1958 – 3.7.1958)7, die Flucht des ehemaligen KZ-Arztes Hans Eisele sowie das Verfahren vor dem Schwurgericht Ulm/Donau gegen zehn ehemalige Angehörige der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit (28.4.1958 – 29.8.1958)8 verdeutlichten den Verantwortlichen in Bonn, der westdeutschen Justiz und der Öffentlichkeit, dass die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht länger zu verdrängen waren9, und die Ahndung durch die Prozesse der Alliierten und die wenigen Verfahren vor deutschen Gerichten10 noch längst nicht abgeschlossen war.
Anfang Oktober 1958 berieten auf einer Konferenz in Bad Harzburg die Justizminister und -senatoren der deutschen Bundesländer11 über notwendige rechtspolitische Schritte, die NS-Verbrechen umfassend aufzuklären. Der vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung zuwider, die die Verfolgung und Bestrafung der Täter, die größtenteils unter ihr als unauffällige, anerkannte und geschätzte Bürger lebten, ablehnte, von »Nestbeschmutzung« sprach und die Vergangenheit für erledigt hielt, schlossen die zuständigen Minister und Senatoren eine Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung der Zentralen Stelle, die 1958 in Ludwigsburg eingerichtet wurde. Von den Ländern abgeordnete Richter und Staatsanwälte sollten von Amts wegen die von den nationalsozialistischen Gewaltherrschern im Ausland in den Jahren 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen restlos erfassen.12 Sobald die Vorermittlungen hinreichende Ergebnisse erbracht hatten, waren die Verfahren an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zur weiteren Durchführung der Strafverfolgung und zur Anklageerhebung abzugeben. Die Zentrale Stelle begann ihre Arbeit am 1. Dezember 1958 und stellte nach den Worten ihres ersten Leiters, Oberstaatsanwalt (fortan: OStA) Erwin Schüle (1913 – 1993), »ein absolutes Novum in der deutschen Rechtsgeschichte«13 dar.
Die bereits im Frühjahr 1958 beginnende Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses belegt eindringlich, dass ohne die unermüdliche Initiative von überlebenden Opfern und ohne das Engagement streitbarer Juristen die strafrechtliche Sühne der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz nicht in Gang gekommen wäre. Überlebende meldeten sich, forschten nach dem Verbleib von Tätern, trugen Namen und Anschriften zusammen, tauschten Informationen aus und sammelten Belastungsmaterial. Beherzte Juristen, dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet, schufen in Zusammenarbeit mit Politikern, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst waren, die rechtspolitischen Voraussetzungen und leiteten umfassende Ermittlungen ein, um bislang unerforschte Tatkomplexe aufzuklären und die strafrechtliche Schuld der an Massenverbrechen Beteiligten zu beweisen. Den Initiatoren der Verfahren war es ein wichtiges Anliegen, im Rahmen von Strafprozessen gegen NS-Täter Aufklärung über die Vergangenheit zu betreiben und damit auch einen Beitrag zur politischen Bildung und zum Geschichtsverständnis zu erbringen. Durch die NS-Verfahren in den 1960er Jahren klärte die deutsche Strafjustiz über den Mord an den europäischen Juden auf. Das geschah in Form der Anklageschriften und der Schwurgerichtsurteile, die allesamt ausführliche, quellengestützte allgemeine, historische Darstellungen enthielten, und durch in Auftrag gegebene historische Gutachten.14 So leistete sie aufgrund der in der Beweisaufnahme erbrachten Erkenntnisse eine umfassende Aufklärung, die die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland versäumt hatte.
Bei der Darstellung der sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse sowie weiterer wichtiger Ermittlungsverfahren bleibt die umfangreiche Ermittlungssache gegen den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, die erst mit der amtlichen Feststellung seines Todes (1979) in den 1980er Jahren eingestellt worden war, unberücksichtigt.
Die Ermittlungen der Frankfurter Justiz gegen Auschwitz-Täter begannen Ende der fünfziger Jahre.15 Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen 20 Angeklagte und die fünf kleinen Nachfolgeprozesse gegen insgesamt zehn Angeklagte zeigen deutlich, dass trotz aller Anstrengungen der Staatsanwaltschaft die Überführung der Angeklagten nicht immer möglich war. Die Gründe für das partielle Scheitern der Justiz, die NS-Verbrechen viele Jahre nach dem Tatgeschehen angemessen zu sühnen, werden in diesem Buch aufgezeigt.
Von den Tausenden von Auschwitz-Tätern16 wurde etwa ein Zehntel strafrechtlich belangt. Hervorzuheben sind der Prozess gegen den Kommandanten Rudolf Höß vor dem Obersten Gerichtshof der Volksrepublik Polen in Warschau (11.3. – 2.4.1947) und das Verfahren gegen 40 SS-Männer und Frauen in Krakau (24.11. – 16.12.1947). Höß und 21 Angeklagte des Krakauer Prozesses wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet17. Weitere rund 600 Auschwitz-Täter verurteilten polnische Gerichte zu Freiheitsstrafen unter zehn Jahren.
Auch vor amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Militärtribunalen standen vormalige Angehörige des SS-Personals von Auschwitz. Angeklagt waren sie aber meist wegen Verbrechen, die sie in anderen Lagern begangen hatten. Zu nennen ist der 1. Bergen-Belsen-Prozess vor einem britischen Militärgericht in Lüneburg (17.9. – 17.11.1945).18 Unter anderen wurden der ehemalige Auschwitz-Kommandant Josef Kramer, der Schutzhaftlagerführer Franz Hössler, der SS-Arzt Fritz Klein, die SS-Oberaufseherin Elisabeth Volkenrath und die SS-Aufseherin Irma Grese zum Tode verurteilt und hingerichtet.19 Weiter der 2. Bergen-Belsen-Prozess (16.5. – 22.5.1946), in dem gegen den vormaligen Krematoriumsleiter Walter Quakernack die Todesstrafe verhängt wurde. Im Hamburger Ravensbrück-Prozess verurteilte ein britisches Militärgericht den Kommandanten Johann Schwarzhuber zum Tode. Der Schutzhaftlagerführer von Buna/Monowitz Vinzenz Schöttl, der zeitweilige Chef der Krematorien in Auschwitz-Birkenau Otto Moll und der Lagerarzt Hellmuth Vetter wurden im 1. Dachauer-Prozess (15.11. – 13.12.1945) von einem amerikanischen Militärgericht20 zum Tode verurteilt und in Landsberg Ende Mai 1946 gehängt. Im Neuengamme-Prozess in Hamburg (18.3. – 3.5.1946) verhängte ein britisches Militärgericht gegen den vormaligen SS-Arzt Bruno Kitt die Todesstrafe. Der SS-Arzt Friedrich Entress wurde von einem amerikanischen Militärgericht im Mauthausen-Prozess im Mai 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Vor bundesdeutschen Gerichten21 standen bis zum Jahr 1963 zum Beispiel der ehemalige Rapportführer des Lagers Buna/Monowitz, SS-Hauptscharführer Bernhard Rakers (LG Osnabrück, 1952 – 1953, 1958, 1959)22, SS-Oberscharführer Johann Mirbeth (zusammen mit den ehemaligen Auschwitz-Häftlingen Helmrich Heilmann und Joseph Kierspel, LG Bremen, 1953)23, die vormaligen Auschwitz-Häftlinge Erich Tabbert (LG Osnabrück, 1953)24 und Otto Locke (LG Berlin, 1957)25 sowie Gerhard Herdel (LG Göttingen, 1953)26, SS-Obersturmführer Wilhelm Reischenbeck (LG München I, 1958)27 und der ehemalige SS-Arzt Johann Paul Kremer (LG Münster, 1960).28 Rakers wurde wegen in Sachsenhausen und Auschwitz verübten Straftaten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, Mirbeth und Heilmann zu sechs Jahren sowie Kierspel zu lebenslangem Zuchthaus. Ihre Straftaten hatten die Angeklagten im Nebenlager Golleschau begangen. Tabbert, seit 1942 Häftling in Auschwitz, wurde vom Vorwurf des Mordes und des Mordversuchs freigesprochen. Herdel, Ende 1944 unter anderem Kommando- und Rapportführer im Lager Buna/Monowitz, erhielt wegen Totschlagversuchs in zwei Fällen ein Jahr Gefängnis. Locke, von August 1940 bis zu seiner Meldung zur SS-Einheit Dirlewanger im Juli 1944 Funktionshäftling in Auschwitz, Häftlings-Nr. 3227, wurde wegen Mordes in sieben Fällen zu lebenslangem Zuchthaus