Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Unter all den exegetischen Mitteln und hermeneutischen Modellen, die sich um eine solche Erzählung drängeln mögen, können einige natürlich versuchen, in ihr eine historische Offenbarung zu dechiffrieren, andere eine Mythologie, die der Geburt des Gesetzes als Geburt der Todesstrafe eine allegorisch-narrative Form gibt; wieder andere können versuchen, durch das narrative (offenbarte oder mythologische) Raster hindurch zu dechiffrieren, wie die Struktur selbst des absoluten Gesetzes in eine fabelartige Geschichte gebracht wird, und zwar als in der Todesstrafe, in der Androhung des für eine Tötung zu zahlenden Preises, eben der Todesstrafe, gründend, am Ursprung des Gesellschafts- oder Nationalstaats-Vertrags, am Ursprung aller Souveränität, aller Gemeinschaft oder aller Genealogie, jeglichen Volkes.
Ich habe also gerade die Analogie mit dem Fall Sokrates in Erinnerung gerufen, dem ersten, aber es gibt auch den Fall Jesus. Ich sage jedes Mal Fall [cas], um daran zu erinnern, dass es sich um eine Rechtssache [cause judiciaire], einen Prozess und um Strafrecht handelt (übrigens: Die gesamte amerikanische Verfassungsrechtsprechung, auf die wir noch zurückkommen werden, insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe, einer Todesstrafe, die zunächst eingeführt, dann abgeschafft, schließlich wiedereingeführt, ausgesetzt, dann in dieser oder jener einzelstaatlichen Gesetzgebung erneut angewandt wurde, diese gesamte Rechtsprechungsgeschichte wird von einer Geschichte des Rechts um „Fälle [cas]“ herum skandiert, „case X versus Y“, die jedes Mal ein Datum der Entscheidung – zum Beispiel der Obersten Gerichtshöfe – festhalten, Entscheidungen, die für die Rechtsprechung als Autorität maßgebend sind). Ich sage also Fall, um an diese juristische Dimension und diese Prozesse zu erinnern, aber auch, weil der Fall [cas] auch der Fall im Sinne von Sturz [chute] ist, eine kapitale Überstürzung, ja die Enthauptung [décapitation], die den Kopf oder das Leben oder den Körper niederwirft, die fallen oder herabfallen, zu Boden, unter das Schafott oder ans Kreuz. Es wird da also den Fall Jesus geben, hinsichtlich dessen wir dasselbe aufzeigen können werden: eine religiöse Anklage, die, natürlich, von einer Souveränität und einer politischen Exekutivbeziehungsweise Exekutionsmacht [pouvoir d’exécution] übernommen wird. Sokrates und Jesus also, aber auch Jeanne d’Arc (1431: selbes Schema, auf das wir immer wieder zurückkommen werden: eine religiöse Anklage im Dienste einer politischen Souveränität oder von dieser, die die Tötung zu vollstrecken beziehungsweise exekutieren vermag, bedient: Bündnis von Religion und Staat). Diese drei, Sokrates, Jesus, Jeanne, sind natürlich keineswegs die Einzigen oder die Ersten, noch weniger die Letzten, aber es sind große emblematische Figuren, anhand derer ich, in der Morgendämmerung dieses Seminars, beginnen möchte, noch bevor wir anfangen. Dieses Mal gibt es keine Protestanten mehr, oder noch keine, es gibt einen mehr oder weniger heidnischen Griechen, der sich nach „neuen daimonia“ sehnt54, Sokrates, es gibt eine sehr christliche, aber nicht protestantische Frau, und es gibt eine Art Juden namens Jesus, vor dem paulinischen Christentum.
Der vierte, mein „Moslem“, wenn man so sagen kann, könnte Al-Halladsch sein, zwischen der Zeit Jesu und der Zeit von Jeanne d’Arc, was uns gestattet, an die Texte von Massignon anzuknüpfen, die wir vor einigen Jahren im Seminar über die Gastfreundschaft55 untersucht haben, vor allem an das, was Massignon die Gastfreundschaft Abrahams nannte. Nun gilt aber Al-Halladsch, wie uns Massignon in seinem Vorwort von 1914 zu seinem großen Buch über La Passion de Hallâj, martyr mystique de l’Islam56 in Erinnerung ruft, und wenn man der islamischen Legende (bei arabischen, persischen, türkischen, indischen oder malaiischen Dichtern) Glauben schenkt, nun gilt also Al-Halladsch als „vollkommener Liebhaber Gottes“ – man wird ihn auch den „Verrückten Gottes“ nennen, der zum Galgen (Hängen, begleitet von Martern) verurteilt wurde, weil er in einer Art Trunkenheit ausgerufen habe: „Ich bin die Wahrheit“. Worte, die buchstäblich nach Christus klingen, Worte eines Christus, der sich nicht damit zufrieden gibt zu sagen, wie Sokrates es oft tat, dass er die Wahrheit nur sucht, sondern dass er die Wahrheit ist. „Ich bin die Wahrheit“: Jesus beruft sich in den vier Evangelien nicht nur unablässig auf die Wahrheit. In dem nach Johannes sagt er zu Thomas: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich (Ego sum via, et veritas, et vita; nemo venit at Patrem, nisi per me. Ego eimi he hodos kai he aletheia kai he zoë; oudeis erchetai pro ton patera ei me di’emou)“ (Joh 14, 6).57
Al-Halladsch wird also zum Galgen verurteilt, weil er in trunkener Ekstase ausrief „Ich bin die Wahrheit“, und er rief es noch vom Galgen herab: „Anâ’l-haqq (Hier bin ich, die Wahrheit)“, was dem großen Christen, der Massignon war, keineswegs missfiel, der erzählt, wie Al-Halladsch im Jahre 922 unserer Zeitrechnung, und dieser Punkt ist mir hier wichtig, in der Geschichte der abbassidischen Kalifen von Bagdad zum „Opfer“ (Opfer ist das Wort, das Massignon wählte) eines großen politischen Prozesses wurde, der durch seine öffentlichen Predigten provoziert wurde. In diesem politischen und durch und durch theologisch-politischen Prozess trafen sämtliche islamischen Kräfte der damaligen Zeit aufeinander: Imamiten und Sunniten, fuqahâ und sufis.
Der Reihenfolge nach also Sokrates, Jesus, Al-Halladsch (922), Jeanne d’Arc (1431). Jedes Mal eine Anklage, eine religiöse Beschuldigung und Inkriminierung, die die blasphemische Beleidigung irgendeiner göttlichen Sakralität im Visier hat, eine religiöse Beschuldigung, die von einer souveränen politischen Macht besetzt58, übernommen, verkörpert, einverleibt, ins Werk gesetzt, enforced, angewendet wird, welche eben dadurch ihre Souveränität, ihr souveränes Recht über die Seelen und über die Körper markiert, welche ihre Souveränität in Wahrheit definiert mit Hilfe dieses Rechts und dieser Macht: über das Leben und den Tod der Untertanen. Das Wesen der souveränen Macht, als politischer, zunächst aber theologisch-politischer Macht, präsentiert und repräsentiert sich auf diese Weise als Recht, eine Todesstrafe auszusprechen und zu vollstrecken. Oder willkürlich, in souveräner Weise zu begnadigen.
Wenn man sich fragen möchte, „Was ist das, die Todesstrafe?“ oder „Was ist das Wesen und < was ist > die Bedeutung der Todesstrafe?“, dann wird man diese Geschichte und diesen Horizont der Souveränität als Bindestrich des Theologisch-Politischen rekonstruieren müssen. Eine enorme Geschichte, die ganze Geschichte, die wir im Augenblick nur streifen oder flüchtig betrachten können. Es ist nicht einmal sicher, ob der Begriff der Geschichte und der Begriff des Horizonts einer Dekonstruktion des komplexen Gerüsts [échafaudage] dieser Schafotte [échafauds] standhalten. Unter Gerüst verstehe ich sowohl die zu dekonstruierende Konstruktion oder Architektur als auch die Spekulation, das Kalkül, den Markt, aber auch den spekulativen Idealismus, der ihnen als Stütze dient. Die Geschichte, der Begriff der Geschichte ist vielleicht, in seiner Möglichkeit selbst, in seinem Gerüst, mit der abrahamitischen und vor allem christlichen Geschichte der Souveränität verbunden, und folglich mit der Möglichkeit der Todesstrafe als theologisch-politischer Gewalt. Die Dekonstruktion ist vielleicht immer, im Allerletzten, durch die Dekonstruktion des Karnophallogozentrismus59 hindurch, die Dekonstruktion dieses historischen Gerüsts der Todesstrafe, der Geschichte dieses Schafotts oder der Geschichte als Gerüst dieses Schafotts. Die Dekonstruktion, was man mit diesem Namen benennt, ist vielleicht, kann sein, vielleicht60 die Dekonstruktion der Todesstrafe, des logozentrischen, logo-nomozentrischen Gerüsts, in dem die Todesstrafe eingeschrieben oder vorgeschrieben ist. Der Begriff der theologisch-politischen Gewalt ist noch unscharf, dunkel, ziemlich undifferenziert (trotz dieses Bindestrichs, der sich, wie wir klar und unabweislich sehen, in die vier großen Beispiele, in die vier großen paradigmatischen „Fälle“ einschreibt, die ich vorhin so rasch erwähnte: ein Prozess mit thematisch religiösem Inhalt und eine Hinrichtung, eine Tötung durch eine politischstaatliche Instanz, das Recht selbst, das Juridische, angefangen mit den „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ und dem Kodex des Buches Exodus, dem Juridischen also, das stets die Vermittlung zwischen dem Theologischen und dem Politischen gewährleistet); dieser relativ grobe, aber bereits ziemlich bestimmte Begriff des Theologisch-Politischen, Theologisch-Juridisch-Politischen wird eine unendliche Analyse von uns erfordern. Eine Analyse, in deren Verlauf wir nicht voraussetzen