Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Der Präsident begnadigt den Verurteilten; dieser, der Guillotine geweiht, entgeht ihr im letzten Augenblick. Spannung. Extreme Angst. Erleichterung. Bravo. Die Milde des Fürsten hat gewirkt. Er geht aus der Sache größer hervor, das ist sicher. Denn in vergangenen Zeiten findet sich kein Beispiel dafür, dass die Geschichte dem Fürsten seine Milde vorgeworfen hätte.
Oder aber der Fürst verweigert die Begnadigung. Die ausgesprochene Verurteilung wird vollstreckt. Der Fürst hat scheinbar nur der Gerechtigkeit oder der Justiz des Volkes freien Lauf gelassen. Es ist das Geschworenengericht, das ihn zum Tode verurteilt hat, nicht der Fürst. Indem er die Hinrichtung nicht untersagt, widerspricht er der getroffenen Entscheidung nicht. Im Gegenteil: Er tut dem von der Jury zum Ausdruck gebrachten Volksempfinden Genüge. Der Fürst kann sagen: „Ich habe das nicht gewollt. Sie waren es, die das so entschieden haben. Wenn sie nicht gewollt hätten, dass dieser Mensch stirbt, dann wäre es an ihnen gewesen, dies zu sagen. Nun sollen sie auch vor den Menschen für ihre Entscheidung Verantwortung tragen. Ich wasche diesbezüglich meine Hände in Unschuld.“ Auf diese Weise macht das Begnadigungsrecht denjenigen, der es ausübt, vor der Geschichte größer. Und oft macht es den, der es verweigert, populärer. Streng oder milde, der Fürst gewinnt auf jeden Fall.
Was impliziert das Begnadigungsrecht aber in Wirklichkeit? Richter und Geschworene verurteilen den Angeklagten nicht dazu, tatsächlich unter der Guillotine zu sterben. Sie bieten dem Fürsten schlicht die Möglichkeit dieser Hinrichtung an. Sie eröffnen dem Fürsten folgende Alternative: Leben lassen oder das Sterben veranlassen. Es ist an ihm, zu wählen. Noch genauer gesagt: Der Gerichtshof verurteilt nicht zum Tode. Er schlägt dem Fürsten vor, einen Verurteilten töten zu lassen. Letzten Endes entscheidet der Fürst allein. Daher ist er verantwortlich, und zwar vollkommen verantwortlich, da er alles kann, nach seinem Gutdünken, nach seinem Belieben, ohne irgendjemandem Rechenschaft zu geben, außer sich selbst. Denn er verfügt souverän, in absoluter Weise über das Leben dieses Menschen. Zweifellos würde er nicht darüber verfügen, wenn man es ihm nicht anbieten würde. Diesen Menschen, den man in Ketten, vom Volk und seinen Richtern bereits verworfen, dem Fürsten hinwirft, damit er mit ihm mache, was ihm beliebt, diese Realität, diese Verantwortung kann der Fürst nicht zurückweisen.
Er darf sich da nicht davonstehlen. Es gibt keine Verurteilung zum Tode in der Justiz. Nur einen Todeswunsch, der vom Schwurgerichtshof zum Fürsten aufsteigt. An ihm ist es, diesen zu hören oder zurückzuweisen. Er ist der Allmächtige.43
Nächstes Mal werden wir diese zwei ineinander verschlungenen Motive desselben Theaters der Grausamkeit und der Souveränität wiederaufgreifen, einerseits die Grausamkeit, die anästhesiert werden muss, eine Grausamkeit, auf die sich, in zweideutiger Weise, sämtliche internationalen Erklärungen berufen, die sich seit einigen Jahrzehnten der Todesstrafe zu widersetzen scheinen, ohne es zu tun, sowie andererseits die Logik der Ausnahme als Logik der Souveränität (so definiert Carl Schmitt, über den wir noch sprechen werden, die Souveränität des Souveräns: mittels der Entscheidung im beziehungsweise über den Ausnahmezustand), aber auch die Ausnahme als Rand- oder Außenbereich, auf den ebenfalls sowohl sämtliche Reden zugunsten als auch sämtliche Reden gegen die Todesstrafe Anspruch erheben. Die einen wie die anderen gleichermaßen. Selbst der große Beccaria, der erste große Denker des Rechts zur Abschaffung der Todesstrafe, war für die Abschaffung der Todesstrafe außer in Ausnahmefällen.
Auf diese Weise wird von neuem die große Frage des Staates aufgeworfen. Denn wenn die Todesstrafe sich vom Mord [meurtre], vom Verbrechen, von der vorsätzlichen und hinterhältigen Ermordung [assassinat]44 oder von der Rache unterscheidet, weil bei ihr die universelle Vernunft, der Dritte, die Anonymität oder die Neutralität des staatlichen Rechts dazwischengeschaltet sind, dann bleibt immer noch die Frage, zu wissen, wo der Staat beginnt. Vielleicht ist er, der Staat, als Behauptung des Rechts und der Gerechtigkeit, bereits im scheinbar wildesten und singulärsten, ja geheimsten Verbrechen präsent, wenn dieser Mord behauptet – und das behauptet er vielleicht immer –, sich Gerechtigkeit zu verschaffen+. Was sagt man, wenn man behauptet, sich Gerechtigkeit zu verschaffen? Und wo beginnt ein Mord?
Das sind die Fragen, die noch auf uns warten werden (bis zum 12. Januar des Jahres 2000).
+Während der Sitzung präzisiert Jacques Derrida: „weltweit[en] und international[en]“ (A.d.H.).
+Während der Sitzung verweist Jacques Derrida auf die Website (www.guillotine.net) einer Schwedin, Eija-Tiita Eklöf, im Internet eher bekannt unter dem Namen „Madame Guillotine“, die „Schöpferin einer gut dokumentierten und reich bebilderten monumentalen Website, die sich der Geschichte der Guillotine in allen Ländern, in denen sie verwendet wird, widmet“ (vgl. den Artikel „www.guillotine.net“, gezeichnet von Yves Eudes, in: Le Monde vom 14. Dezember 1999, S. 34). Diese Website existiert heute nicht mehr (A.d.H.).
+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Wenn ein singulärer Mord [meurtre] behauptet, sich Gerechtigkeit zu verschaffen, gibt es bereits den Dritten, den Zeugen, den Staat, der in der Kulisse aufgerufen wird: Der Staat ist vielleicht bereits da.“ (A.d.H.).
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