Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

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Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida Passagen forum

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Frage des Theaters der Strafjustiz, und nicht nur des christlichen Theaters, als Frage der Souveränität, und zwar einer Souveränität, die bald die mutmaßliche Souveränität des Volkes [peuple], der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury [jury populaire] ist, bald die des Souveräns als Staatsoberhaupt, das in letzter Instanz über das Begnadigungsrecht verfügt (wir haben hier also die ganze Geschichte der Souveränität als eine Geschichte, die genauso christlich ist wie die des Gnadenrechts [droit de grâce], da merci, mercy35, vorherrschend eine christliche Sache ist), ich wäre nun versucht, eine Dimension dieses Theaterraums in Badinters Buch als Raum der Souveränität aufscheinen zu lassen oder aufscheinen zu sehen, und zwar buchstäblich an mindestens zwei Stellen – die ich aus Gründen bevorzuge, die Sie im Vorüberzug sofort wiedererkennen werden.

      1. Die erste Stelle, weil in ein und derselben Sequenz, in der von einer Anspielung auf Shakespeare zu einer Anspielung auf den Prozess des Sokrates übergegangen wird, die Aube/Morgendämmerung beim Namen genannt wird, l’Aube mit einem großen A, was mit dem zusammenklingt, was ich letzte Woche sagte, ohne zu wissen, dass ich in L’Exécution auf diese/s groß geschriebene Aube/Morgendämmerung stoßen würde.36 Was die Anspielung auf Shakespeare betrifft, so interessiert sie mich nicht nur aufgrund des Theaters, sondern auch aus einem zusätzlichen Grund, den ich gleich näher darlegen werde, nachdem ich diese Passage vorgelesen habe. Die Worte, die Sie hören werden, sind in erster Linie nicht nur die von Badinter selbst, sondern die seines Lehrmeisters, des großen Anwalts Henri Torrès, dem das Buch gewidmet ist und dessen Gestalt durch das ganze Buch geistert, als die des Meisters, der den jungen Robert Badinter ausgebildet und geformt hat, was bei Letzterem grenzenlose Bewunderung und Dankbarkeit hervorrief, die im Buch unablässig in Erinnerung gerufen werden. Laut jenen Worten, die Badinter berichtet oder rekonstruiert, hat der alte Lehrmeister eines Tages zu ihm gesagt, dass er die Demokratie im Justizwesen in Form der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury liebe wie etwas von Shakespeare. Er habe den Eindruck, ein Stück von Shakespeare zu erleben, sagte er. Er nennt dann den King Lear, ich meinerseits denke aber an ein anderes Stück, zu dem ich gleich noch ein paar Worte sagen werde. (L’Exécution, S. 107-109 vorlesen)

      Die Franzosen lieben die Beamten nicht und die Gendarmen selten. Genauso wenig lieben sie, in der Tat, die Anwälte. Sie sind Romanen, und keine Angelsachsen. Der Kult um das Gesetz und um alles, was mit ihm zusammenhängt, ist ihnen unbekannt. Die Franzosen lieben jedoch die Beredsamkeit. Dann hat der Anwalt vor den Geschworenen alle Chancen. Wehe aber, wenn er sie langweilt.

      „Nur, an dem Tag, an dem Vichy beschloss, dass nun Schluss sei mit dieser lächerlichen Demokratie im Justizwesen, mit dieser durch die Geschworenen repräsentierten Allmacht des Volkes, dass man im Namen der Effizienz und der Autorität mit diesem Skandal aufräumen müsse, und dass von nun an die Richter gemeinsam mit den Geschworenen tagen und gemeinsam mit ihnen überlegen und abstimmen würden, an dem Tag hat sich alles geändert. Das große Zeitalter des Anwalts endete mit der Angst vor den Geschworenen. Jetzt ist neben ihnen überall der Großwesir anwesend, um ihnen den Weg zu weisen, auch um sie zur Vernunft zu bringen. Wie schön aber war jene Justiz, die akzeptierte, bisweilen unvernünftig zu sein, weil die Menschen es immer sind. Früher, mein Kleiner, hatte ich, wenn ich im Schwurgericht, allein vor den Geschworenen mir gegenüber, mein Plädoyer hielt, den Eindruck, ein Stück von Shakespeare zu erleben. Wenn ich sie jetzt anschaue, wie sie brav im Halbkreis um die Richter in roten und schwarzen Roben sitzen, wie gute Schüler um ihren Lehrer herum, dann glaube ich eine Rolle in einem Stück von Dumas dem Jüngeren zu spielen – in dem alles vernünftig ist, sogar die Leidenschaften, ja selbst die Huren. Manchmal schieße ich natürlich über das Ziel hinaus. Man hat nicht Jahre lang King Lear gespielt, um einfach Vater Duval zu werden…“ Mein Meister seufzte und schien melancholisch zu werden, bis ihn seine starke Natur, einem durstigen Trinker gleich, mit lauten Rufen Champagner bestellen ließ, um einen Toast auf die Jury auszubringen: „Auf all diejenigen, die in der Geschichte das doppelte Verdienst erworben haben, Sokrates zum Tode zu verurteilen und Madame Caillaux freizusprechen, womit sie im Abstand von zweitausend Jahren bewiesen haben, dass ein Philosoph in Freiheit für das Gemeinwesen gefährlicher ist als ein Luder im Gefängnis.“ Ich habe nie verstanden, warum mein Meister Madame Caillaux derart hasste, aber ich wusste um seine Leidenschaft für Sokrates, dessen Apologie er gern rezitierte, das schönste Plaidoyer, das je gehalten wurde.

      Wir waren zu der Stunde weit entfernt von Sokrates, von der Apologie und von den Geschworenen Athens. Außer in einem wesentlichen Punkt. Auch diese Männer und diese Frauen, die Geschworenen aus dem < Département > Aube, auch sie genossen diese unerhörte Macht: Sie hatten über das Schicksal zweier Männer zu entscheiden.37

      Denen, die dieses Seminar über die Vergebung seit drei Jahren38 verfolgen, mag diese Anspielung auf Shakespeare die lange Analyse in Erinnerung rufen, die wir dem Kaufmann von Venedig gewidmet hatten, insbesondere dem, was dort die Gnade [grâce] betrifft, „the quality of mercy“, in jener großen Rede Portias, die den Juden Shylock überzeugen will, die Schuld zu erlassen [faire grâce de la dette], woraufhin er vom überaus christlichen Dogen von Venedig begnadigt werden würde [sera gracié].39 In dieser außerordentlichen Tirade Portias, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, die jedoch mit den Worten „Mercy seasons justice“ endet, kam – und das wird der einzige Punkt sein, den ich hier in Erinnerung rufe – ebenfalls Regen vor, es fiel bereits Regen, ein anderer Regen, ein guter Regen dieses Mal, ein milder Regen (gentle rain), ein Regen, der nicht grausam ist, sondern vom Himmel fällt wie die göttliche Gnade und wie ein doppelter Segen, für den, der ihn empfängt, und für den, der ihn gibt:

       La grâce ne se commande pas, dit-elle

       Elle tombe comme la douce pluie du ciel

       Sur ce bas monde: elle est double bénédiction;

      Elle bénit qui la donne, et qui la reçoit.

      The quality of mercy is not strain’d,

       It dropeth as the gentle rain from heaven

       Upon the place beneath: it is twice blessed

      it blesseth him that gives and him that takes.40

      Ihrm Wesen nach kennt Gnade keinen Zwang.

      Sie träufelt wie ein Regen sanft vom Himmel

      Zur Welt hernieder: zweifach gesegnet ist sie,

      Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt.41

      2. Zweite Stelle. Wir haben soeben wieder an die Frage der Gnade und also der Ausnahme angeknüpft, von der ich sagte, dass dies, in Verbindung mit dem Motiv der Grausamkeit, mein erster Leitfaden für diese erste Wegstrecke sein würde. Badinter (der sich seither oft bei einem anderen Problem, dem der Parität, als Anhänger einer bestimmten Logik der Souveränität gezeigt hat), Badinter scheint hier, in dieser Maschine der Todesstrafe, dem Rückgriff auf die Gnade zu misstrauen. Die Passage, die ich gleich vorlesen werde, kommt in dem Bericht genau vor jener Stelle, als die Anwälte der bereits zum Tode verurteilten Angeklagten vom damaligen Präsidenten der Republik, Pompidou, empfangen wurden, Pompidou (dessen Strategie von Badinter in diesem Buch oft schonungslos analysiert wird), von dem man noch nicht weiß, ob er die präsidentielle Gnade gewähren oder verweigern wird. Heute wissen wir, dass er sie Buffet und Bontems verweigerte, während er Touvier42 begnadigt hatte, im Namen dessen, was er selbst die „nationale Versöhnung“ nannte.

      Hier nun diese Passage, vor dem Besuch im Élysée-Palast, bei dem die beiden Anwälte versuchen werden, den Souverän zu überzeugen beziehungsweise zu einer Meinungsänderung zu bewegen:

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