Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Seit zwanzig Jahren, seitdem ich Anwalt bin, üben die Orte, an denen Recht gesprochen wird, auf mich eine starke Faszination aus. So wie andere in der Provinz oder im Ausland die Museen, die Kathedrale oder Antiquitätenhändler besuchen, so versäume ich nie, mich zum Justizpalast zu begeben. Ich mische mich unter die Zuschauer hinten im Verhandlungssaal, wo über die banalsten Angelegenheiten, noch so kleine Delikte geurteilt wird. Ich höre zu, ich sauge alles in mich ein, ich versuche, die Bedeutung dieser speziellen Justiz zu erfassen. Die Justiz am Werk zu sehen ist für mich, wenn ich nicht als Akteur beteiligt bin, ein bevorzugtes Schauspiel. Wenn man die immer gleiche Tragikomödie der Justiz ablaufen sieht, lernt man mehr über ein Land, eine Kultur, über ihre Menschen als an jedem anderen Ort, und sei es an einem Markttag auf dem Hauptplatz. Ich sitze da, aufmerksam, gut unterhalten und von einer vagen Furcht ergriffen, vermutlich ein wenig einem mittelalterlichen Gaffer ähnelnd, der ein Mysterienspiel betrachtet. Ich spüre, dass sich da hinter dem Ritual, den Formen, den Reden der Protagonisten eine tiefer liegende Wirklichkeit abspielt, dass das, was für uns aufgeführt wird, eine Art missglückte, immer missglückte Verkörperung einer wesentlichen Forderung, einer unzerstörbaren Hoffnung darstellt: Gerechtigkeit. Selbst leere Gerichtssäle oder leere Zuschauerränge sind für mich wie aufgegebene Kirchen oder unbewohnte Schlösser, wo die eigenen Schritte widerhallen oder man instinktiv die Stimme senkt. Dort haben sich Dramen abgespielt, von denen die Geschichte keinerlei Spuren aufbewahrt hat, von denen aber, unsichtbar und drückend, noch etwas geblieben ist in diesen Mauern.
Als ich in Troyes den Justizpalast betrat, habe ich zu meiner Überraschung nichts dergleichen verspürt.23
Wir könnten in Badinters Argumentation noch eine andere Spur dieses Wortes und dieser Logik der Faszination verfolgen, lange vor, an die zehn Jahre vor seiner Rede vor der Nationalversammlung, denn was Badinter fürchtet, nachdem er die Faszination bemerkte, die die eigene Hinrichtung auf Buffet ausübte, oder zunächst auch seine eigene, Badinters Faszination für das religiöse Theater des Gerichtshofs, was er ebenfalls fürchtet, ist, dass die Hinrichtungen, weit davon entfernt, durch das Exempel, das sie statuieren, virtuelle Verbrecher zu entmutigen, auf perverse Weise (wobei man sich bei jeder Faszination im Grunde genommen virtuell in die Perversität, in die Perversion begibt) eine Faszination auf virtuelle Verbrecher, auf Geiselnehmer ausüben könnten, die im Grunde Buffet und Bontems nachahmen möchten. Die Logik der Faszination wäre im Grunde das beste Argument gegen den angeblichen exemplarischen Charakter der Strafe oder vielmehr das Gegenargument in Bezug auf die Perversion des behaupteten exemplarischen Charakters selbst: Das schlechte Beispiel läuft Gefahr, unter dem Effekt des Gesetzes der Faszination, zum guten Beispiel zu werden, zu dem Beispiel, dem zu folgen ist, das Verbrecher nachahmen werden wollen, um dem zum Tode Verurteilten ähnlich zu werden. Eine Art Perversion der imitatio Christi. Was auch Jean Genet sagte und zeigte, der aber eine andere Sorge im Kopf hatte. Der zum Tode Verurteilte wird auf diese Weise zu einem faszinierenden Heiligen, einem faszinierenden Helden, einem faszinierenden Märtyrer. Ich lese. (L’Exécution, S. 207-208, lesen)
Ich wusste, dass Bontems leben wollte. Jede seiner Äußerungen zeigte, dass er zu diesem Leben gehörte, dass er seiner nicht überdrüssig war, so elend es auch sein mochte, das war immer noch sein Leben, immer noch das Leben. Man machte sich daran, ein Lebewesen [un animal] zu töten, das leben wollte, leben konnte. Warum? Es gab keinen wirklichen Grund dafür. Die Geiseln waren tot, gewiss, nicht von seiner Hand, aber auch durch seine Schuld. Reichte das aus, um ihn seinerseits zu töten? Wären die Frau des Wärters und der Mann der Krankenschwester morgen weniger unglücklich, wenn Bontems tot, wenn er enthauptet wäre? War dies das Heilmittel, vorausgesetzt, dass es überhaupt eines gibt? Und würden all diejenigen, die in den Gefängnissen davon träumen, Geiseln zu nehmen, morgen ihr Vorhaben aufgeben, wenn sie die Nachricht von der Hinrichtung erhielten? Ach was. Buffets und Bontems’ Tod würde im Gegenteil eine geheime Faszination auf sie ausüben, die sie in ihren Vorhaben weiter vorantreiben wird. Nach dem Urteilsspruch von Troyes waren kaum ein paar Wochen vergangen, da hatte schon im Krankenhaus von Fresnes ein Gefangener eine Krankenschwester als Geisel genommen und mit dem Skalpell in der Hand gedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden, wenn man ihm nicht sofort die Mittel zu seiner Freiheit verschaffe. Die Unglückliche hatte ihre Unversehrtheit nur dem Eingreifen eines weiteren Gefangenen zu verdanken, der den Durchgedrehten niederstreckte. Eine schöne Illustration für den exemplarischen Charakter der Strafe!24
Da wir aber vom Theater der Grausamkeit sprechen, und da wir vorhaben, so nah wie möglich bei diesen zwei Motiven zu bleiben, dem Theater und der Grausamkeit, und dem Theater der Grausamkeit in der Morgendämmerung/im < Département > Aube [à l’Aube]25, wollen wir sehen, wie sich diese unterschiedlichen thematischen Fäden (Notate und Konnotationen) in der Logik ineinander verschlingen, die auch eine Rhetorik eines Rechtsanwalts ist, der im Laufe eines einzelnen Prozesses bereits gegen die Todesstrafe im Allgemeinen plädiert, oder vielmehr für die Abschaffung der Todesstrafe, fast zehn Jahre bevor er es als Minister vor der Nationalversammlung tun wird26, wobei sich diese Fäden hier zu einem Film verknüpfen, zu einer narrativen Sequenz eines wohlüberlegten und vernünftig argumentierenden Berichts, dessen Status schwankt zwischen Tagebuch, Chronik oder autobiographischem Zeugnis einerseits, und einem literarischen Kunstwerk andererseits. Das war, natürlich auf ganz andere Weise, auch der Status jener zwei Bücher von Genet gewesen, über die wir gesprochen haben und in denen die Eigennamen realer, historischer Personen, die zum Tode verurteilt und tatsächlich hingerichtet worden waren, den fiktionalen und poetischen Lyrismus eines literarischen Werks weder zum Schweigen bringen noch neutralisieren. Nun, Badinter versteht es sehr gut, seinen ganzen Bericht mit einer Prise Grausamkeit zu versehen und die überall anzutreffende Grausamkeit, die er anprangert oder anklagt, durch geschickte rhetorische Effekte mit dem unerbittlichen, gnadenlosen Maschinismus einer kühlen, eiskalten, herzlosen Vernunft in Verbindung zu bringen. Hart und kalt wie eine Maschine, wie eine