Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Der Gladiator ist in den Sand der Arena gesunken. Er ist im bleigrauen Netz seines Kontrahenten gefangen. Die Menge auf den Rängen des Zirkus fordert schreiend seinen Tod. Alle Gesichter wenden sich Cäsar zu. Die mit schweren Ringen geschmückte Hand hebt sich. Alles schweigt. Wenn Cäsar beschließt, mit dem Daumen nach unten zu zeigen, wer wird dann letzten Endes den Gladiator getötet haben: Der Rohling, der sein Schwert bereits erhoben hat? Die Menge, die nach Blut lechzt? Oder Cäsar, ganz allein, vorne in seiner Loge?
Auch an diesem Morgen regnete es. Es war ein kalter, grausamer Regen, ein Pariser Herbstregen, der die Straßen feindselig macht. Die Leute eilen mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf dahin, als wären sie bereit, einen über den Haufen zu rennen, um schneller ihr schützendes Dach zu erreichen. Wir, Philippe und ich, gingen in den Faubourg Saint-Honoré zurück, wobei wir uns unter einem Regenschirm am Arm hielten. Als wir an einem Schaufenster vorbeikamen, sah ich darin unser Spiegelbild. In Haltung und Minenspiel sahen wir aus wie auf dem Weg zu einem Begräbnis, ganz in Marineblau gekleidet, unter einem großen schwarzen Regenschirm. Ich beschleunigte den Schritt.27
Dieser eiskalte Regen wird bis zum Ende dieses Films fallen, bis in die letzten Zeilen des Buches hinein, nach der Hinrichtung. Der Wortschatz von Kälte und sogar Eis [glace]28 prägen die letzte Seite und die letzten Notizen des Buches. Der Anwalt verlässt die Szene der Guillotine, und das Buch, er schreibt:
Ich dachte, dass es sehr kalt war. […] Meine Frau fuhr langsam [alle die Gegenwart seiner Frau betreffenden Notizen in diesem Buch markieren den Kontrapunkt der Sanftheit [douceur] („meine Frau fuhr langsam [doucement]“29) und des Herzens, des Privat-Lebens (die Frau, die Familie) im Gegensatz zur kalten und männlichen Härte des Staatsbürgers, dieser Politik und dieser Öffentlichkeit ohne Herz – denn die Öffentlichkeit ist ebenfalls Angeklagter in diesem Plädoyer, ebenso wie der Präsident als Politiker. Es gäbe viel zu sagen zu diesem Geschlechtergegensatz in Bezug auf die Todesstrafe, zu sagen und zu komplizieren beziehungsweise zu überdeterminieren]. Meine Frau fuhr langsam. Die Straßen waren so leer wie ich selbst. Mit meinem Handschuh wischte ich die Scheibe [glace] ab. Es gab nichts mehr zu tun, zu sagen. Es war aus, das war alles, Ende der Affaire Bontems.30
Das ist das letzte Wort des Buches, ein Eigenname als Name einer „Affaire“. Bontems, letztes Wort, letzter Name dieses Opfers eines Mordes, letztes Wort des Buches, Bontems wird in diesen Zeiten schlechten Wetters [temps de mauvais temps] von der Maschine des Gesetzes ermordet [assassiné] worden sein. All dies lässt sich nicht in die Landschaft einer anderen Sprache übersetzen, nicht nur aufgrund des Eigennamens, Bontems, und der Homonymie zwischen temps [„Zeit“] und temps [„Wetter“] (time und weather, die Zeit, die die Geschichte bildet, und das Wetter, das in der Geschichte herrscht), sondern es ist unübersetzbar, weil die Guillotine französisch ist, wie die Französische Revolution und die Allgemeine Erklärung der Menschen- und der Bürgerrechte, und weil Frankreich die Todesstrafe im Jahre 1972 noch aufrechterhält, während man sie andernorts abschafft. Sogar in den Vereinigten Staaten. Das schlechte Wetter [mauvais tems31], das Bontems überlebt, die Kälte und der Regen, die grausame und herzlose Kälte des Himmels über dieser Stadtlandschaft, dieser Stadt, dieser Hauptstadt [capitale] der Todesstrafe [peine capitale], dieser Polis und dieser Polizei, dieser Politik (denn das kommt nach der Verweigerung der Begnadigung durch einen Präsidenten, der sich um seine Politik sorgte, wir werden noch darauf zurückkommen), diese eisige und unmenschliche Kälte der Techno-Politik wird auf theatralische Weise verkörpert, wenn ich so sagen kann, oder vielmehr ent-körpert durch jene Figur ohne Person32, die die Guillotine ist, das Spektakel der persona, das eine aufgerichtete Guillotine bietet, aufgerichtet auf der Bühne und im Hof. Badinter beschreibt ihre theatralische Erscheinung als die einer Theaterfigur [personnage], einer erschreckenden persona, als das grausame Trugbild von jemandem, der just niemand [personne] ist, der aber, niemandem ähnelnd, immer noch einer Person ähnelt. Die Guillotine, diese so französische Erfindung, die den Eigennamen ihres Erfinders, des Doktor Guillotin, in einen patentierten Gattungsbegriff, in den Akt eines unpersönlichen Verbs (guillotinieren) verwandelte, das die Lexik und die Syntax der französischen Sprache bereichert hat, die Guillotine, das ist niemand. Zugleich unmenschlich und übermenschlich, beinahe göttlich. Es gibt da so etwas wie eine Religiosität im Klima dieser Guillotine, die sich unter dem Himmel gen Himmel erhebt.+ Hören Sie: (L’Exécution, S. 212, vorlesen)
Ich betrat den Hof. Da war die Guillotine.
Ich war nicht darauf gefasst gewesen, sie sofort vor mir vorzufinden. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie irgendwo verborgen wäre, in einem Hinterhof. Doch sie war’s, so wie ich sie, wie jeder von uns sie auf so vielen alten Photographien und Drucken gesehen hatte. Ich war jedoch überrascht über die sehr hohen, sehr dünnen Pfosten, die sich von der Glasscheibe hinter ihr abhoben. Im Gegensatz dazu erschien mir der Körper der Maschine klein, wie eine ziemlich kurze Kiste. Aber so, wie sie mit ihren beiden großen mageren Armen dastand, brachte sie den Tod derart gut zum Ausdruck, dass sie der Tod selbst zu sein schien, der in diesem nackten Raum zu einem Ding geworden, materialisiert worden wäre. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch den riesigen schwarzen Baldachin, der wie ein Sonnensegel oder eine Zirkuskuppel über den gesamten Hof gespannt war. Auf diese Weise verbarg er die Guillotine vor den Blicken, die man von oben her auf sie hätte werfen können. Dieser Baldachin, der den ganzen Himmel verdeckte, verwandelte den Hof in eine Art riesigen Saal, in dem sich allein die Guillotine wie ein Götzenbild oder ein Unheilaltar erhob. Um sie herum machten sich die Gehilfen zu schaffen. Das Symbol war auch Maschine. Dieser mechanische, nützliche Aspekt, vermischt mit dem Tod, den sie derart gut zum Ausdruck brachte, machte die Guillotine widerlich und erschreckend.
Ich ging an ihr vorbei, wobei ich mich weigerte, meinen Schritt zu verlangsamen oder zu beschleunigen, sie zu betrachten oder ihr auszuweichen.33
Sie haben die Arme der Guillotine bemerkt. Sie haben bemerkt, was in diesen Armen der Tod bedeutet („Aber so, wie sie mit ihren beiden großen mageren Armen dastand, brachte sie den Tod derart gut zum Ausdruck […]“). Ich frage mich nun, inwieweit Badinter diesen Effekt absichtlich kalkuliert hat, und wenn ja, welchen Sinn er ihm gegeben haben mag (aber im Grunde kommt es darauf gar nicht an), wenn er, fünf Seiten weiter, als er gewissermaßen den religiösen, christlichen, ja an Christus gemahnenden Apparat dieses Films beschreibt, auch die Arme Christi oder des Kreuzes nennt: Hören Sie: (L’Exécution, S. 217-218, vorlesen)
In einem Winkel des Hofs hatte der Anstaltsgeistliche den Altar aufgebaut. Christus streckte seine Arme nach den Gittern aus. Zwei Wärter haben jeweils seitlich neben dem mit einem Altartuch bedeckten Schreibtisch Aufstellung genommen, etwas zurückgezogen, eine merkwürdige Präsenz in diesem Augenblick. Der Anstaltsgeistliche erwartete Bontems. Er führte ihn hinter den Altar. Wir blieben stehen. Bontems stand ganz nahe beim Priester. Er beichtete vermutlich. Nun sprach der Priester zu ihm. Alles war still. Ich drehte mich um. Da waren Gefängniswärter, Polizisten, Gendarmen und der Henker, der seinen Hut auf dem Kopf behalten hatte. Und der Richter des Berufungsgerichts, dessen Lippen sich bewegten, er sprach vermutlich die Sterbegebete. Und dann noch weitere Leute. Ich schaute sie an. Alle, und ich selbst vermutlich ebenfalls, machten ein irgenwie verkniffenes Gesicht. Das elektrische Licht ließ ihre Gesichtszüge noch härter erscheinen. Sie alle hatten in diesem Augenblick Mördervisagen. Nur der Priester und Bontems, der die Absolution empfing, hatten noch menschliche Gesichter.