Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Ich kehre nun zu L’Exécution zurück, und zum historischen Chiasmus, der Unzeit15 des „zu früh“ oder „zu spät“: der wesentlichen Anachronie der Todesstrafe. 1972 hatte Badinter eine Stunde, nachdem er sein Plädoyer beendet hatte, erfahren, dass in den USA soeben die Todesstrafe abgeschafft worden war und dass, ein Mal mehr, das Geschehen in den USA besondere Auswirkungen auf die ganze Welt haben würde, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. In den Zeilen, die ich gleich vorlesen werde, werden Sie sehen, welche Bedeutung dabei dem öffentlichen Raum, dem neuen öffentlichen Raum zukam, der vom Radio und den – mächtigen und machtlosen – internationalen Medien der bereits im Gange befindlichen Globalisierung geprägt war, einer Globalisierung, die in dieser Debatte so ungleichförmig und heterogen war. Das ist der Grund, weshalb ich hier darauf insistiere. (L’Exécution, S. 158-160, lesen)
Als ich den Schwurgerichtssaal betrat, schwirrten zwei Journalisten aufgeregt um mich herum. „Wissen Sie schon das Neueste?“ Ich starrte sie verständnislos an. „Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat gerade die Todesstrafe abgeschafft. Es ist soeben im Radio gekommen.“ Ich blickte auf die große Wanduhr. Weniger als eine Stunde war vergangen, seit die Verhandlung beendet war. Hätte ich die Nachricht eine Stunde früher erfahren, welch ein letztes Argument hätte die Verteidigung daraus machen können! Jetzt war es zu spät. Die Jury, die sich zu ihrer abschließenden Beratung zurückgezogen hatte, war gleichsam vor der Welt verschanzt. In meiner Erbitterung kam mir in den Sinn, ein Transistorradio zu nehmen und es vor dem geschlossenen Fenster jenes Saales abzustellen, in dem die Jury versammelt war, und es zur Nachrichtenzeit in voller Lautstärke aufzudrehen. Vielleicht würde diese Nachricht den Geschworenen, wenn sie ihnen zufällig und beinahe überfallsweise zu Ohren kam, wie ein Wink des Schicksals erscheinen, ein Hinweis darauf, dass die Todesstrafe nur das Nachleben einer Epoche war, die andernorts zu Ende ging und auch in Frankreich zu Ende gehen konnte. Ich ermaß aber rasch die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen Unternehmung, die den Gerichtshof im Gegenteil auch verärgern könnte. Schließlich waren wir in Troyes und man urteilte über die Mörder von Clairvaux. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten war in diesem Augenblick weit weg. Ich ging zur Verteidigerbank zurück. Ich dachte an Bontems, an das, was er empfinden musste. Auch ich konnte nicht mehr tun als auf meinem Platz zu warten.
Es dauerte im Übrigen nicht allzu lange. Viel weniger lang als ich vermutet hatte. Die Glocke ertönte und bald darauf kehrte das Gericht in den Saal zurück. Jeder nahm seinen Platz wieder ein, in einem gewissen Durcheinander, das auch noch andauerte, als der Vorsitzende, sich uns zuwendend, anordnete, die Angeklagten hereinzubringen. Ich blickte jedem Einzelnen der Geschworenen in die Augen, mit all meiner Kraft, um einen Blick zu erhaschen, eine Kommunikation herzustellen, ein Zeichen. Ich stieß nur auf verschlossene Gesichter. Eine Art Leere breitete sich um uns herum aus, ich spürte sie in mir. Das Verlesen der Antworten auf die gestellten Fragen begann. Bei der vierten, für uns entscheidenden Frage, hielt der Vorsitzende inne: „Ist Bontems, unter denselben Umständen von Zeit und Ort, schuldig, Madame … getötet zu haben?“ Antwort: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Ein Seufzer der Erleichterung im Saal. Ein befreundeter Journalist lächelte mir zu. Bontems hatte seinen Kopf gerettet. Der Vorsitzende fuhr fort: „Hat Buffet Madame … getötet?“ Antwort: „JA.“ – „Ist Bontems der Komplize von Buffet?“ „JA.“ – „Gibt es mildernde Umstände für Buffet?“ „NEIN.“ Buffet wurde zum Tode verurteilt. „Gibt es mildernde Umstände für Bontems?“ Als Antwort kam: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Das hieß Todesstrafe. Der Vorsitzende verkündete sie bereits. Im Saal, um den Justizpalast herum, durch die geöffneten Fenster zu hören, ertönten Applaus und Bravorufe. Der Vorsitzende zeigte sich vergeblich indigniert. Die Menge schrie aus einer Mischung von Freude und Hass. Ich drehte mich zu Bontems um. Ich packte ihn am Arm und sagte mit fester Stimme, mit aller Kraft, die ich aufzubringen vermochte: „Bontems, Sie werden begnadigt werden. Man hat anerkannt, dass Sie nicht getötet haben. Sie werden begnadigt werden. Das ist gewiss. Der Präsident der Republik wird Sie begnadigen, das ist gewiss.“ Philipp Lemaire gab ihm bereits Anweisungen, um seinen Revisionsantrag zu stellen. Er lächelte uns noch zu, auf andere Art. Und er sagte: „Da Sie es mir sagen, habe ich Vertrauen…“ Ich schüttelte ihm noch die Hand. Die Gendarmen zogen ihn bereits fort. Philippe ging ebenfalls, um noch ein wenig mit ihm zu sprechen. Ich hingegen blieb mitten im Tumult sitzen. Man hat uns Recht gegeben, man hat zugegeben, dass er nicht getötet hatte. Gleichwohl hat man diesen Menschen zum Tode verurteilt, bezüglich dessen man zugab, dass er nicht getötet hatte. Ich hielt meine Augen starr auf meine Papiere gerichtet, Notizen, die nun nutzlos geworden waren wie ich selbst. Ich wollte diese Gesichter nicht sehen.16
Kehren wir nun zum Motiv der Grausamkeit zurück, das für uns sowohl aufgrund seiner Bedeutung wichtig ist als auch aufgrund seiner Zweideutigkeit, die es, wie wir unentwegt verifizieren werden, in die Geschichte des Rechts und in die Geschichte der Todesstrafe eingeführt hat (vor allem deshalb, weil es, wir werden noch darauf zurückkommen, eben gerade die Grausamkeit der Hinrichtung [exécution] ist, die angeprangert wird, und zwar sowohl in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs als auch in den zahlreichen, überaus zweideutigen internationalen Erklärungen, die zwar zur Abschaffung der Todesstrafe ermuntern, aber ohne das Prinzip der Todesstrafe je zu benennen und zu verurteilen, wobei die Grausamkeit der Hinrichtung einfach zu einem Fall von „Folter“ wird. Man verurteilt also die Folter, nicht aber die Tötung)17. Wenn ich, immer noch in L’Exécution, wie auch später in Badinters Rede vor dem Parlament, diese Logik oder Rhetorik der Grausamkeit, des Theaters der Grausamkeit, hervorhebe, werde ich sie in bestimmten Passagen zum Vorschein bringen (unter so vielen anderen möglichen), in denen dieses Motiv der Grausamkeit sich mit anderen Motiven überschneidet, die wir bereits zu befragen, ja neu in Szene zu setzen begannen. Die Morgendämmerung, das Theater, sowie die Faszination und die Kälte der Maschine, sowie, um damit zu beginnen, das Paradox der Anästhesie.
Ich beginne mit Letzterem (mit dem Paradox der Anästhesie), und Sie werden sehen, wie es bereits von der Zeit zwischen Nacht und Morgendämmerung rhythmisiert wird. Hören Sie nun einen Abschnitt, in dem zum Ausdruck kommt, inwieweit es darum ging, den Verurteilten zu anästhesieren, ihn aber nur bis zu dem Punkt zu anästhesieren, einzuschläfern oder schlafen zu lassen, ja ihm beim Schlafen zu helfen, an dem er wach und wachsam bleiben musste, an dem er in dem Moment klar im Kopf sein musste, als er dabei war, ihn zu verlieren. (L’Exécution, S. 198, lesen)
In der Santé hat der Chefaufseher, der mich jeden Morgen mit einem rituellen „Gut geschlafen, Herr Anwalt?“ empfing, aus Sympathie oder Ironie, vielleicht sogar beidem, die Zeit als lang empfunden, und die Wärter mit ihm. Er hat es mir jeden Tag gesagt, wenn er mich den Flur entlang zurück begleitete. „Es ist hart für sie“. Buffet ging bis zur Morgendämmerung auf und ab. Dann schlief er vor Erschöpfung ein. Das Tier [animal] in ihm hatte noch nicht vor dem Tod resigniert, den er erwartete, den er verlangte. Bontems hingegen legte sich in der Abenddämmerung schlafen und holte dank der Schlafmittel, die ihm der Doktor erlaubte (in kleinen Dosen, um einen Selbstmordversuch zu verhindern), einige Stunden Schlaf heraus. Lange bevor der Morgen dämmerte, wachte er auf. Auf dem Bett ausgestreckt, rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Schließlich wurde es Tag, bisweilen schlief er noch einmal ein.18
Dass dieses ganze Theater der Grausamkeit unter dem Zeichen der Faszination, der fascinatio, stand, das heißt dessen, was den Voyeurismus, den Schautrieb, das Theaterbegehren mit dem Zauber, der Verzauberung verbindet, was den Zuschauer ans Schauspiel kettet,