Das Jahr 2000. Edward Bellamy
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»Nun, die Streiks natürlich«, sagte ich.
»Ganz recht; aber was ließ die Streiks so fürchterlich erscheinen?«
»Die großen Arbeiterorganisationen.«
»Und was war der Beweggrund für diese großen Organisationen?«
»Die Arbeiter behaupteten, sie müssten sich vereinigen, um ihre Rechte den großen Korporationen gegenüber sich zu erhalten«, sagte ich.
»Das ist es eben«, sagte Dr. Leete, »die Arbeitervereine und die Streiks waren lediglich die Folge der Konzentration des Kapitals in nie zuvor gekannten Massen. Ehe diese Konzentration begann, wurden Handel und Industrie von unzähligen kleinen Geschäften mit kleinem Kapitel betrieben, anstatt von wenigen großen Geschäften mit großem Kapital, und so war der einzelne Arbeiter verhältnismäßig eine wichtige Persönlichkeit und unabhängig von seinem Arbeitgeber. Wenn nun ein kleines Kapital oder eine neue Idee einem Manne genügte, ein selbständiges Geschäft anzufangen, wurden immer mehr Arbeiter Arbeitgeber und es bestand keine feste Grenze zwischen den beiden Klassen. Arbeitervereine waren da unnötig und allgemeine Streiks waren außer Frage. Als aber die Ära der großen Vereinigungen von Kapital auf diejenige der kleinen Geschäfte folgte, änderte sich alles. Der einzelne Arbeiter, welcher für den kleinen Geschäftsmann von Wichtigkeit war, sank in Unbedeutendheit und Ohnmacht gegenüber der großen Vereinigung, während sich ihm gleichzeitig der Weg zum Arbeitgeber verschloss. Selbsthilfe nötigte ihn, sich mit seinen Genossen zu verbinden.
Die Berichte dieser Periode zeigen, dass die Entrüstung gegen die Verbindung des Kapitals furchtbar war. Man glaubte, dass sie die Gesellschaft mit einer Tyrannei bedrohe, schlimmer als sie je eine erduldet; dass die großen Korporationen ein Sklavenjoch für sie schmiede. Blicken wir zurück, so kann uns die Verzweiflung der Arbeiter nicht wundern, denn die Menschheit hat nie einem traurigeren und schrecklicheren Los entgegengesehen, als ein Bund von Tyrannen, die sie fürchtete, gewesen sein würde.
Inzwischen ging die Aufsaugung des Geschäfts durch immer wachsende Monopole ihren Weg, ohne sich durch das Geschrei dagegen im mindesten aufhalten zu lassen. In den Vereinigten Staaten, wo sich diese Aufsaugung später vollzog als in Europa, gab es, nach Anfang des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts, nicht die mindeste Möglichkeit zu einzelnen Unternehmungen auf irgend einem Gebiete der Industrie, das einige Bedeutung hatte, wenn sie nicht von einem großen Kapital unterstützt waren. In den letzten zehn Jahren des Jahrhunderts waren die wenigen übrig gebliebenen kleinen Geschäfte nichts als verschwindende Überbleibsel einer vergangenen Zeit, oder Schmarotzer bei großen Verbindungen, oder sie vegetierten auf Gebieten, die zu geringfügig waren, um große Kapitalisten anzulocken. Was überhaupt noch an kleinen Geschäften bestand, fristete sein Leben wie Ratten und Mäuse in Löchern und Winkeln und rechnete darauf, unbemerkt zu bleiben, um sich des Lebens freuen zu können. Die Eisenbahnen hatten sich konsolidiert, bis einige große Syndikate jede einzelne Schiene im Lande kontrollierten. In Fabriken beherrschte ein Syndikat jede Ware von Bedeutung. Diese Syndikate, Pools, Trusts, oder wie sie hießen, bestimmten Preise und erdrückten alle Konkurrenz, außer wenn Kombinationen von gleicher Stärke erstanden. Dann entstand ein Kampf, der wieder in einer größeren Vereinigung endete. Der große Bazar in der Stadt hungerte durch Zweiggeschäfte seinen Konkurrenten auf dem Lande aus und absorbierte in der Stadt selbst seine kleineren Rivalen, bis das Geschäft eines ganzen Viertels unter einem Dach konzentriert war, wo hundert frühere Ladeninhaber als Ladendiener fungierten. Da der kleine Kapitalist kein eigenes Geschäft hatte, in dem er sein Geld anlegen konnte, trat er in den Dienst der Kombination, legte seine Kapitalien in ihren Papieren an und wurde so doppelt abhängig von ihr.
Die Tatsache, dass der verzweifelte Widerstand des Volkes gegen diese Vereinigung des Geschäfts in wenigen Händen ohnmächtig war, derselben Einhalt zu tun, ist ein Beweis dafür, dass starke wirtschaftliche Gründe dafür gesprochen haben müssen. Die kleinen Kapitalisten mit ihren zahllosen kleinen Geschäften waren den großen Verbindungen von Kapital gewichen, weil sie einer Zeit mit kleinlichen Verhältnissen angehörten und völlig unfähig waren, den Ansprüchen einer Dampf- und Telegraphenära mit riesigen Unternehmungen zu genügen. Zu der alten Ordnung der Dinge zurückzukehren, hätte soviel geheißen, als zu den Tagen zurückkehren, wo wir mit der Post reisten. So drückend und grausam die Herrschaft der großen Kapitalverbindungen war, so mussten selbst ihre Opfer, wenn auch unter Verwünschungen, den wunderbaren Aufschwung, den die nationale Industrie durch sie genommen, die ungeheuren Ersparnisse in Betrieb und Organisation anerkennen und eingestehen, dass seit Einführung des neuen Systems der Reichtum der Welt in einer Weise zugenommen hatte, wie man sich vorher nicht hatte träumen lassen. Zwar ist dadurch nur der Reiche reicher und die Kluft zwischen ihm und dem Armen weiter geworden, aber die Tatsache blieb stehen, dass das Kapital in seiner Vereinigung sich als wirksames Mittel erwiesen hatte, Reichtum zu schaffen. Die Rückkehr zum alten System mit seinen Unterabteilungen des Kapitals würde zwar eine größere Gleichheit in den Verhältnissen mit mehr individueller Geltung und Freiheit zurückgebracht haben, aber um den Preis allgemeiner Verarmung und Rückganges des allgemeinen Fortschrittes.
Gab es denn nun kein Mittel, sich der Dienste der allmächtigen, Reichtum erzeugenden Kapitalvereinigung zu versichern, ohne sich vor einer Plutokratie, wie die Karthagos war, zu beugen? Sobald die Menschen anfingen, sich solche Fragen vorzulegen, fanden sie auch leicht die Antwort darauf. Das Streben nach einer Geschäftsführung mit immer wachsenden Kapitalverbindungen, nach Monopolen, das so heftig, aber erfolglos bekämpft worden war, wurde endlich in seiner wahren Bedeutung, als ein Prozess anerkannt, der nur seine logische Entwicklung zu vollenden brauchte, um der Menschheit eine goldene Zukunft zu eröffnen.
Im Anfang dieses Jahrhunderts wurde diese Vollendung vollzogen, indem sich das ganze Kapital der Nation konsolidierte. Die Industrie und der Handel des ganzen Landes hörten auf, von einer Anzahl Korporationen und Syndikaten von Privatpersonen ohne Verantwortlichkeit, nach eigenem Belieben zu eigenem Vorteil geführt zu werden, und wurden der Leitung eines einzigen Syndikats, das die Nation vertrat, anvertraut, um im allgemeinen Interesse und zum allgemeinen Vorteil betrieben zu werden. Die Nation, nämlich die eine große Geschäftskorporation, in welcher alle anderen Korporationen aufgegangen waren, wurde der einzige Kapitalist, der einzige Arbeitgeber, das einzige Monopol, welches alle früheren und kleineren Monopole verschlungen hat, ein Monopol, in dessen Gewinne sich alle Bürger teilen. Mit einem Worte, das Volk der Vereinigten Staaten beschloss, die Führung seines Geschäftes selbst in die Hand zu nehmen, grade wie es vor hundert und mehr Jahren die Leitung seiner Regierung selbst in die Hand genommen hatte, und organisierte die industriellen Verhältnisse nach denselben Grundsätzen als die politischen. Endlich hatte man begriffen - leider etwas spät - dass kein Geschäft so wesentlich Gemeingeschäft ist, als die Industrie und der Handel, von denen der Unterhalt des Volkes abhängt, und dass es eine ebensogroße, wenn nicht größere Torheit ist, sie Privatpersonen zu überlassen, um ihren Privatvorteil daraus zu ziehen, als Königen und Fürsten die Funktionen der Staatsgewalt zu überlassen, zum Zwecke ihrer persönlichen Verherrlichung.«
»Jedenfalls hat aber auch eine solche fabelhafte Veränderung furchtbares Blutvergießen und Revolution verursacht«, sagte ich.
»Im Gegenteil«, erwiderte Dr. Leete, »es fand nicht der geringste Gewaltakt statt. Man hatte den Wechsel lange vorhergesehen. Die öffentliche Meinung war reif dafür und die ganze Masse des Volkes unterstützte ihn. Weder Gewalt noch Gründe konnten ihm widerstehen. Auf der anderen Seite fühlte man keine Bitterkeit mehr gegen die großen Korporationen, da man gelernt hatte, dieselben als notwendige