Hinter der Tür. Giorgio Bassani
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Die italienische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel Dietro la porta bei Giulio Einaudi Editore in Turin. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1967 unter dem Titel Hinter der Tür im Piper Verlag in München. Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnaldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.
Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.
E-Book-Ausgabe 2020
© 1980 Arnoldo Mondadori Editore, Milano
© 2008 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Sebastian Maiwind unter Verwendung des Gemäldes Red with Ian, 1959 von Peter Samuelson © The Bridgeman Art Library. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 4302 0
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2596 4
Ah, Seigneur! donnez-moi la force et le courage de contempler mon coeur et mon corps sans dégout!
Baudelaire
1
Ich bin in meinem Leben oft unglücklich gewesen, als kleines Kind, als Knabe, als Heranwachsender und schließlich als Erwachsener, und meine Verzweiflung hat oft den äußersten Punkt erreicht. Aber ich kann mich an keine Zeit erinnern, die schwärzer für mich gewesen wäre als die Monate vom Oktober 1929 bis zum Juni 1930, während ich die erste Klasse des Liceo, der Oberstufe des Gymnasiums, besuchte. All die Jahre danach haben daran im Grunde nichts ändern können. Sie konnten mir einen Schmerz nicht nehmen, der wie eine verborgene Wunde blieb, weiterblutend im geheimen. Heilung? Befreiung? Ich weiß nicht, ob sie jemals möglich sein werden.
Von Anfang an fühlte ich mich unbehaglich, ja vollkommen entwurzelt. Ich mochte unser neues Klassenzimmer nicht. Es lag am Ende eines düsteren Korridors, weit entfernt von dem anheimelnden, so vertrauten Gang des Ginnasio, der Unterstufe des Gymnasiums, mit seinen dreizehn Klassentüren. Ich mochte unsere neuen Lehrer nicht, die mit ihrer distanzierten, ironischen Art jedes Vertrauen, jedes persönliche Verhältnis unmöglich machten (sie alle siezten uns), wenn sie nicht gar – wie der Professor* für Latein und Griechisch, Guzzo, oder die Krauss, unsere Professorin für Chemie und Naturkunde – für die nächste Zukunft die Härte und Strenge wahrer Kerkermeister verhießen. Ich mochte unsere neuen Mitschüler nicht, die von der ›Fünf a‹ kamen und der wir, von der ›Fünf b‹, angegliedert worden waren. Mir schienen sie grundverschieden von uns, vielleicht tüchtiger, vielleicht schöner und, im großen und ganzen, aus besseren Familien als wir, aber jedenfalls hoffnungslos fremd. Und ich konnte die vielen unter uns von der alten ›Fünf a‹ nicht verstehen oder gar entschuldigen, die im Gegensatz zu mir sogleich Anschluß an die Neuen suchten und, wie ich zu meiner Bestürzung erkannte, durch Erwiderung der Sympathien, durch die gleiche unbefangene Verträglichkeit, wie sie sie ihnen entgegenbrachten, belohnt wurden. Ist das möglich?, fragte ich mich, verstimmt und eifersüchtig. In meiner Treue zur alten Klasse wollte ich am liebsten, daß auch hier noch, in der Oberstufe, eine Art unsichtbarer Demarkationslinie alle, die von der ›Fünf b‹ kamen, von denen aus der früheren ›Fünf a‹ schied, um jeden Verrat und jede Korruption in unseren Reihen auszuschließen. Und wie grausam hatte ich mich in meiner lächerlichen Anhänglichkeit gleich am ersten Tage verletzt gefühlt, als ich von weitem den geliebten Professor Meldolesi, der uns in der ›Fünften‹ in Literaturgeschichte unterrichtet hatte, an der Spitze seiner neuen ›Vierten‹ auf dem für uns nun verbotenen Korridor des Ginnasio verschwinden sah.
Aber am bittersten war für mich folgender Umstand: Otello Forti, der von der Grundschule an immer neben mir gesessen hatte, war bei der Abschlußprüfung der Unterstufe durchgefallen. (Ich selbst mußte wie im vorigen Jahr die Prüfung in Mathematik im Oktober wiederholen, aber Forti hatte im Oktober, obwohl er nur die Englisch-Prüfung noch einmal machen mußte, endgültig versagt.) Das hieß nicht nur, daß er nun nicht mehr wie seit jeher an meiner rechten Seite saß, sondern auch, daß ich mit ihm außerhalb der Schule nicht mehr zusammenkommen konnte. Nicht am Mittag, wenn wir gemeinsam von der Schule aus den Heimweg über den Corso Giovecca antraten, nicht am Nachmittag zum Fußballspiel auf dem Montagnone oder – und dies vor allem – nicht mehr bei ihm zu Hause, in diesem schönen, großen, fröhlichen Haus, in dem es so viele Brüder, Schwestern, Vettern und Basen Otellos gab und in dem ich so viele Stunden verbracht hatte. Denn der arme Otello, der den Schmerz über die Ungerechtigkeit, daß man ihn hatte durchfallen lassen, nicht verwand, hatte seinen Vater gebeten, die fünfte Klasse in Padua in einem Internat der Barnabiten, das den Staatsschulen gleichgestellt war, wiederholen zu dürfen. Und ohne Otello, ohne daß ich seinen massiven, ein wenig schwerfälligen Körper – so viel stärker und schwerer als der meine – neben mir spürte, ohne die Herausforderung, ja auch den Ärger, den mir seine zurückhaltende Art bedeutete, seine grobe, ironische und im Grunde so herzliche Art, wann immer wir zusammen, bei mir oder bei ihm, unsere Schularbeiten machten, ohne Otello empfand ich vom ersten Tage an den anhaltenden Schmerz des Verwaisten: das Gefühl eines durch nichts auszufüllenden Vakuums. Was wollte es da besagen, daß er mir schrieb und mit überraschender Wortgewandtheit (ich hatte ihn nie für sehr intelligent gehalten) sein Gefühl für mich in seine Briefe strömen ließ? Was machte es aus, daß ich ihm mit nicht geringeren Freundschaftsbeteuerungen antwortete? Ich besuchte jetzt das Liceo, und er ging noch immer ins Ginnasio – ich in Ferrara, er in Padua. Das war die unabänderliche Wirklichkeit, die er sich mit dem Mut, der Einsicht und der plötzlichen Reife des Unterlegenen noch deutlicher bewußt machte als ich. Weihnachten sehen wir uns wieder, schrieb ich ihm. Worauf er antwortete: Ja, Weihnachten, also in zweiundeinhalb Monaten, würden wir uns vermutlich wiedersehen (vorausgesetzt allerdings – er hatte es sich selber geschworen –, daß er in allen Fächern eine ausreichend gute Zensur erhielt, was nun keineswegs so sicher war!); doch würden zehn gemeinsam verlebte Tage an unserer Situation nichts ändern. Er schien mir raten zu wollen: Los, vergiß mich, such dir einen anderen Freund – falls du nicht schon einen gefunden hast. Nein, das Briefeschreiben nützte recht wenig. So daß wir tatsächlich bereits nach den Feiertagen von Anfang November – Allerheiligen, Allerseelen und dem Siegesgedenktag – in stillschweigendem Einverständnis beide damit aufhörten.
Ich hatte das Bedürfnis, meiner Unzufriedenheit Luft zu machen und ihr deutlich Ausdruck zu geben. So verzichtete ich am ersten Schultag bewußt darauf, mich am Sturm auf die bevorzugten Bänke zu beteiligen – das heißt auf jene, die dem Katheder am nächsten standen –, wie ihn meine Mitschüler stets zu Beginn eines neuen Schuljahres unternahmen. Das überließ ich den anderen, denen von der alten ›Fünf b‹ wie denen von der ›Fünf a‹, und blieb auf der Schwelle zum Klassenzimmer stehen, von wo aus ich angewidert die Szene beobachtete. Schließlich setzte ich mich nach hinten, auf die letzte Bank in der für die Mädchen bestimmten Reihe, nahe dem Fenster in der Ecke. Es war die einzige leer gebliebene Bank, eine große Bank, meiner mittelgroßen Statur nur schlecht angepaßt, dafür aber um so mehr meinem Wunsch nach Selbstverbannung. Wer weiß, wieviel lange Kerle hier schon vor mir gesessen hatten, die ein Schuljahr wiederholen mußten! Ich las die Inschriften, die meine Vorgänger mit dem Taschenmesser tief in den Lack der schrägen Tischfläche eingeritzt hatten – zumeist Beschimpfungen