Hinter der Tür. Giorgio Bassani

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Hinter der Tür - Giorgio  Bassani

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vollkommen beherrscht von einem Feldwebel von Frau, einer Mathematikprofessorin, die ihn um Haupteslänge überragte), ganz unvermutet eine feste Stelle gefunden hatte, ich glaube bei einer Fabrik, die Lacke herstellte. Ob der junge Cattolica nun wirklich Chirurg geworden ist, wie er es schon damals, zu Beginn des Liceo, mit seiner üblichen Selbstsicherheit verkündet hatte? Und ob er wirklich das Mädchen geheiratet hat, das er allabendlich mit dem Fahrrad in Bondeno besuchte und mit dem er bereits seit mehr als einem Jahr verlobt war? (Hieß sie nicht Accolti, Graziella Accolti?) Selten ist einer Generation so übel mitgespielt worden wie der unseren; der Krieg und die übrigen Ereignisse haben so unendlich viele unserer Vorhaben und Lebenspläne zunichte gemacht, die nicht minder ernst gemeint waren als die von Carlo Cattolica. Und doch, irgend etwas sagt mir, daß er lebt und daß er, wie er es sich vorgenommen hatte, wirklich Chirurg geworden ist (wenn noch nicht berühmt, so im Begriff, es zu werden), auch daß er, obwohl er Ferrara noch als Junge verließ, letzten Endes doch noch seine Graziella geheiratet hat. Werden wir beide uns jemals wiedersehen? Wer weiß. Ich halte es immerhin für möglich. Aber nur Mut.

      Ich sehe das Gesicht Cattolicas noch vor mir: sein klares Profil, rechts neben mir, von der Präzision einer Medaille. Er war groß und sehr schlank; seine funkelnden schwarzen Augen lagen tief unter den ein wenig hervorspringenden Brauenbogen, und seine Stirn, nicht hoch, aber breit, bleich und gelassen, war sehr schön. Es ist merkwürdig, aber das älteste Bild, das meine Erinnerung an ihn bewahrt, ist ebenfalls eine Seitenansicht. Wir waren schon in der Volksschule zusammen gewesen, in der Gemeindeschule Alfonso Varano in der Via Bellaria, schon damals allerdings der eine in der a-, der andere in der b-Klasse; und eines Morgens fiel mir während der Pause auf dem Schulhof seine merkwürdige Art zu laufen auf. Er lief die Mauer entlang und bewegte dabei die dünnen Beine in dem gleichmäßigen, weit ausgreifenden Laufschritt eines Mittelstreckenläufers. Ich erkundigte mich bei Otello Forti nach ihm. »Was, den kennst du nicht?« fragte er überrascht. »Das ist doch Cattolica.« Ich bemerkte, daß er ganz anders lief als wir alle, mich nicht ausgenommen. Bei uns genügte eine Kleinigkeit, uns abzulenken und aus der Richtung zu bringen. Er aber sah, während er lief, ruhig geradeaus, als ob er allein, als einziger unter so vielen, genau das Ziel kenne.

      Nun saßen wir nebeneinander, nur durch ein paar Zentimeter voneinander getrennt. Aber irgend etwas, eine Art unsichtbarer Barriere, einer geheimen Demarkationslinie, verhinderte, daß wir mit der unbefangenen Vertrautheit von Freunden miteinander verkehrten. Ich hatte zwar anfänglich den einen oder anderen schüchternen Versuch in dieser Richtung unternommen, etwa indem ich ihn eines Tages, als wir eine Klassenarbeit in Latein zu schreiben hatten, darum bat, ausnahmsweise die beiden dicken Bände meines Wörterbuchs einmal rechts von dem Brett legen zu dürfen, das den Platz für unsere Bücher und Hefte in zwei vollkommen gleiche Fächer teilte. Doch die Kühle, mit der er zustimmte – mit einer winzigen Drehung des Kopfes um die eigene Achse –, ließ es mir nicht geraten erscheinen, mit ähnlichen Annäherungsmanövern fortzufahren. Wonach war ich denn auch auf der Suche?, dachte ich. Reichten mir die gesellschaftliche Bedeutung, die mondäne Wichtigkeit, die unserer Verbindung zukamen, nicht aus? Schon immer war Cattolica der Beste in den a-Klassen gewesen, von der ersten bis zur fünften Klasse des Gymnasiums (ganz zu schweigen von der Grundschule, wo sich die Lehrer auf dem Gang gegenseitig seine Aufsätze zu lesen gaben). Aber auch ich, selbst wenn ich mir hin und wieder eine Pause gönnte, hatte im Grunde immer zu der kleinen Gruppe an der Spitze gehört. Also? War es nicht ganz richtig, daß wir uns als die Bannerträger zweier Heerscharen, die von altersher gegeneinander angetreten waren, so und nicht anders verhielten? Daß im wesentlichen jeder an seinem Platz blieb?

      Für gewöhnlich stellten wir im Umgang miteinander die größte Rücksichtnahme, Achtung und Ritterlichkeit zur Schau. War zum Beispiel einer von uns aufgerufen und abgefragt worden und kehrte nun an seinen Platz zurück, dann sparte der andere nicht mit, je nachdem, beifälligem oder trostspendendem Lächeln, nicht mit beglückwünschendem oder auch kameradschaftlich mitfühlendem Händedrücken. Und er sorgte dafür, daß der hinter uns sitzende Mazzanti, der – vollkommen im Bilde über unser Verhältnis und eine Möglichkeit witternd, für sich und Malagù einen Vorteil aus der Situation zu ziehen – gleich zu Beginn ein privates Register angelegt hatte, in dem er Tag für Tag sorgfältig unsere Zensuren eintrug, nun auch wirklich genau die Punkte für den andern notierte und sich als der unparteiische Schiedsrichter, der ergebene und korrekte Buchhalter erwies, der er immer sein wollte. Aber wenn dann die Klassenarbeiten kamen, löste sich das zarte Gespinst gesellschaftlicher Heuchelei jäh wie Nebel in der Sonne. Dann konnte uns keine noch so schwierige Stelle im Griechischen oder Lateinischen zu einer gemeinsamen Anstrengung bewegen. Da arbeitete jeder für sich und hütete eifersüchtig das Resultat seiner eigenen Bemühungen; da geizte jeder mit sich selbst und hätte lieber eine unvollständige oder falsche Übersetzung abgeliefert, als daß er dem andern etwas hätte verdanken müssen. Wie ich es vorausgesehen hatte, übernahmen Droghetti und Camurri, die auf den Bänken vor uns saßen, die Rolle der zuverlässigen Vermittler zwischen Cattolica und den weit vorgeschobenen Vorposten Boldini und Grassi. Wenn die Zeit drängte und Professor Guzzo den Blick von den Korrekturfahnen seiner Arbeit über Sueton hob und mit grausamem Lächeln ankündigte, daß in genau zehn Minuten, und nicht einer mehr, der ›ausgezeichnete‹ Chieregatti die ›Elaborate der Herren‹ einsammeln würde, dann mußte man gesehen haben, wie das Fernsprechnetz der alten a-Klasse funktionierte, mit welch unverschämter Perfektion es wieder in Betrieb gesetzt wurde! In diesen dramatischen Augenblicken war es aus mit dem Lächeln und Händedrücken und mit allen geheuchelten Bekundungen liebenswürdiger Kameradschaft. Die Maske fiel. Und nun zeigte sich mir das sonst so glatte Gesicht Cattolicas, verzerrt von ehrgeiziger Anspannung, wie es wirklich war, in seiner ganzen Feindseligkeit und Gehässigkeit. Es zeigte sich endlich nackt.

      Und doch, obwohl ich ihn verabscheute, bewunderte und beneidete ich ihn.

      Es gab kein Fach, in dem er nicht vollkommen war, in Italienisch wie in Latein, in Griechisch wie in Geschichte und Philosophie, in Biologie, Mathematik und Physik nicht anders als in Kunstgeschichte, ja sogar im Turnen (vom Religionsunterricht war ich befreit, nahm also nicht am Unterricht Don Fonsecas teil, doch ich zweifelte nicht, daß Cattolica auch bei dem ›Priester‹ ein Musterschüler war); ich haßte seine geistige Klarheit und neidete sie ihm zugleich wie das luzide Funktionieren seines Hirns. Was für ein Wirrkopf war ich, verglichen mit ihm! Zwar war ich im italienischen Aufsatz vielleicht besser als er. Aber natürlich nicht immer; es kam auf die Aufgabe an; die eine machte mir Freude, die andere nicht; und wenn mir ein Thema nicht zusagte, war nichts zu machen; da war es schon viel, wenn ich sechs Punkte bekam. So war ich vielleicht im mündlichen Übersetzen in Latein und Griechisch brillanter (Guzzo hatte mir nach dem anfänglichen Geplänkel sein Wohlwollen geschenkt; wenn wir Homer oder Herodot lasen – vor allem Herodot –, wandte er sich fast immer an mich, um, wie er sagte, ›die genaue Übersetzung‹ zu hören), aber im Schriftlichen, besonders bei der Übersetzung aus dem Italienischen ins Lateinische, war mir Cattolica klar überlegen. Er hatte die ausgefallensten kleinen Regeln der Formenlehre und Syntax im Kopf und irrte sich praktisch nie. Sein Gedächtnis erlaubte ihm zum Beispiel, in der Geschichtsstunde Dutzende und Aberdutzende von Daten, wie aus der Pistole geschossen und ohne sich nur einmal zu irren, anzugeben. Oder vor der vor Wonne schier zerfließenden Krauss in der Biologiestunde die Klassen der Wirbellosen aufzusagen – so sicher und unbefangen, als läse er sie aus einem Buch ab. Wie machte er das, fragte ich mich. Was verbarg sich in seinem Schädel? Eine Rechenmaschine? Mazzanti zögerte nicht. Nach derartigen Gedächtnisleistungen war er bereit, in sein Register eine Neun, ja, eine Neun plus einzutragen. Und das Tollste dabei war, daß das ›Plus‹ sehr oft auf mich zurückging, der ich mich rasch umgewandt und darauf bestanden hatte, daß Mazzanti es hinzufügte.

      Aber das Gefühl meiner Unterlegenheit rührte nicht einmal so sehr vom Vergleich unserer Leistungen in der Schule her als von ganz anderen Dingen.

      Da war zuerst der Unterschied in der Größe. Er war groß und hager, ein junger Mann bereits und wie ein junger Mann gekleidet, mit langen Hosen aus grauem Vigogneflanell und einem andersfarbigen Sakko aus einem schweren Stoff – in der Tasche steckte ein Zehnerpäckchen Macedonia-Zigaretten – und einer hübschen Krawatte aus Organdy. Ich dagegen

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