Hinter der Tür. Giorgio Bassani
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»Soviel ich weiß, habe ich dir geschrieben. Hast du meine Briefe nicht erhalten?«
»Doch, schon gut, aber …«
»Nun also!«
Jetzt hatte er den Blick erhoben und sah mich an, hart und feindselig.
»Wie oft hast du mir geschrieben? Drei Briefe waren es in den beiden ersten Wochen. Und dann – nichts mehr.«
»Und du?«
Er hatte recht. Ich hatte als erster nicht mehr geantwortet. Aber wie sollte ich ihm jetzt erklären, warum ich nicht mehr den Mut gehabt hatte, eine Korrespondenz fortzusetzen, bei der unsere Rollen plötzlich vertauscht waren? Ich hatte gemeint, es sei an mir, ihn über sein Unglück zu trösten. Statt dessen hatte in gewisser Weise er mir von Anfang an gut zureden und mich trösten wollen.
Es war ein milder Tag (kein Vergleich zu dem strengen Winter des Vorjahrs – trotz der schon vorgeschrittenen Jahreszeit war die starke Kälte bisher ausgeblieben), und so gingen wir später in den Garten. In der blauen, ein wenig nebligen Luft der Abenddämmerung besuchten wir noch einmal all die Orte, die sich mit unserer Freundschaft verbunden hatten – eine Art Generalbesichtigung: den schönen Rasen in der Mitte, jetzt feucht und kahl, wo wir beide, zusammen mit seinen Brüdern und Vettern, so manche Partie Krocket gespielt hatten; das kleine Bauernhaus dahinter, dessen Erdgeschoß als Lagerraum für Holz und Kohlen und dessen erster Stock als Taubenschlag benutzt wurde; und schließlich den mit Bäumen bestandenen Hügel an der Gartenmauer, auf dem Giuseppe, der ältere Bruder Otellos, in einem grauen Verschlag, der aus wurmstichigen Brettern und einem Drahtgitter bestand und ursprünglich als Hühnerstall gedient hatte, Kaninchen züchtete. Otello führte jetzt die Unterhaltung. Er erzählte mir ziemlich weitschweifig von seinem Leben im Internat, das, so gab er zu, hart war, vor allem wegen der unmöglichen Zeiten, zu denen sie von den Präfekten des Morgens geweckt wurden (um Viertel nach fünf mußten sie aufstehen; dann ging es in die Kapelle zum Beten), aber es war auch gut organisiert, damit niemand die Hände in den Schoß legen konnte und immer irgend etwas zu tun hatte. Das Pensum? Sehr viel umfassender als das unsere im vergangenen Jahr. In Latein würden sie über das dritte Buch der Äneis geprüft werden, ferner über Ciceros Briefe und Den Krieg mit Jugurtha von Sallust; im Griechischen über die Kyrupädie des Xenophon, die Dialoge des Lukian und eine Auswahl aus den Parallelbiographien des Plutarch; und im Italienischen über Die Verlobten von Manzoni und Den rasenden Roland des Ariost.
»Den Orlando furioso ganz?« fragte ich verblüfft.
»Ja, ganz«, antwortete er trocken.
Eine Frage aber hatte mir auf den Lippen gebrannt, und erst im letzten Augenblick, vor der Tür, schon im Begriff zu gehen, entschloß ich mich, sie zu stellen. »Hast du dich dort schon mit irgend jemandem angefreundet?« fragte ich ihn.
Mit augenscheinlicher Genugtuung bejahte er. Doch, er habe einen sehr sympathischen Jungen aus Venedig kennengelernt, mit dem zusammen er nun arbeite. Er hieß Alzerà, Leonardo Alzerà (sein Vater war Graf!) – ein sehr begabter Bursche, auch in Italienisch, Latein und Griechisch, aber hauptsächlich in Mathematik und Geometrie; in diesen beiden Fächern sei er – unter Garantie! – nicht zu schlagen. Ich schmierte rasch mal ein Gedicht oder eine Novelle herunter, nicht wahr? Schön, er aber löste mit der gleichen Leichtigkeit zu seinem Vergnügen komplizierteste Gleichungen dritten Grades. Ein Phänomen! Mit einem solchen Kopf konnte es nicht schwer sein, einmal Wissenschaftler, Erfinder, kurz, eine Berühmtheit zu werden …
Ob sich das Folgende tatsächlich am Morgen des 8. Januar, bei Schulbeginn nach dem Dreikönigsfest, zugetragen hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit erklären. Ich glaube, ja. Sicher ist, daß ich eines Morgens früh, eine halbe Stunde vor dem Läuten in die Del-Gesù-Kirche trat. (Ich war noch nie in der Kirche selbst gewesen; wenn Otello vor einer Klassenarbeit oder in Voraussicht einer wichtigen Prüfung hier eintrat, ›um sich die Götter gnädig zu stimmen‹, wie ich es voller Nachsicht bei mir nannte, hatte ich ihn immer nur bis zur Tür begleitet, ohne die Schwelle je zu überschreiten.)
Kein Mensch war um diese Stunde in der Kirche. Ich hatte langsam das rechte Seitenschiff durchschritten, die Nase in der Luft wie ein Tourist; aber die durch die hohen Fenster einfallenden Sonnenstrahlen ließen mich die großen barocken Gemälde über den Altären nicht klar erkennen. Vor dem in Halbdunkel getauchten Chor angelangt, war ich zum linken Seitenschiff hinübergegangen, das vom Sonnenlicht überflutet war. Hier aber erregte sogleich eine seltsame Gruppe bewegungsloser und schweigsamer Gestalten meine Aufmerksamkeit, die sich neben der zweiten der beiden Nebenpforten eingefunden hatte.
Wer waren sie? Wie ich bald erkennen konnte, sowie ich nahe genug gekommen war, handelte es sich nicht um lebende Personen, sondern um Statuen. Statuen aus bemaltem Holz, in Lebensgröße gearbeitet. Und zwar um jene berühmte Beweinung Christi aus S. Maria della Rosa, vor die mich in meiner Kindheit Malvina (meine einzige katholische Tante) so oft geführt hatte, allerdings nicht hier, sondern eben in S. Maria della Rosa in der Via Armari, von wo die Gruppe offenbar später in die Jesuskirche gebracht worden war. Auch jetzt versenkte ich mich wieder in die grausame Szene und sah den fahlen, gemarterten Leib des toten Christus, der auf dem nackten Boden ruhte, und um ihn versammelt, erstarrt in ihrem Schmerz in stummer Gebärde, mit stummen verzerrten Gesichtern, mit Tränen, die sich nie ausweinen durften, die Angehörigen und Freunde: Maria, Johannes, Joseph von Arimathia, Simon, Magdalena und zwei fromme Frauen. Und während ich die Statuen betrachtete, erinnerte ich mich an Tante Malvina, die bei diesem Anblick nie ihre Tränen zurückhalten konnte. Sie zog den schwarzen Jungfernschal über ihre Augen und kniete nieder, natürlich ohne daß sie es wagte, auch ihren kleinen ungetauften Neffen niederknien zu heißen.
Endlich raffte ich mich auf, wandte mich um und wollte die Kirche verlassen.
Und in diesem Augenblick entdeckte ich Carlo Cattolica. Er kniete in einer Bank des Mittelschiffs, ruhig und gesammelt, der einzige Besucher in der Kirche.
Meine erste Regung war, ihn nicht zu stören und fortzugehen, ohne daß er mich bemerkte. Statt dessen ging ich auf Zehenspitzen und mit klopfendem Herzen durch das Seitenschiff bis zu seiner Bank.
Er hatte seine Bücher neben sich gelegt und betete. Die schöne, reine Stirn über die gefalteten Hände gebeugt, bot er mir, der ich ihn beobachtete, das gleiche scharfgeschnittene, rätselhafte Profil, das er mir täglich in der Schule zeigte. Ich spürte einen Schmerz. Warum waren wir nicht Freunde, fragte ich mich. Warum konnten wir nicht Freunde werden? Vielleicht, weil er mich nicht genug schätzte? Aber daran konnte es nicht liegen, denn wie tüchtig und intelligent Boldini und Grassi immer sein mochten, sie waren es gewiß nicht mehr als ich. Dann vielleicht der unterschiedlichen Religion wegen? Aber die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion hatte zwischen Otello und mir nie eine Rolle gespielt. Ganz und gar nicht. Die Fortis waren alle sehr religiös und in katholischen Organisationen tätig (der Rechtsanwalt Forti gehörte dem Vinzenzverein an, und auch Giuseppe war vor zwei Jahren dort Mitglied geworden), und doch hatte mich keiner von ihnen je spüren lassen, daß ich Jude war. Übrigens waren die Eltern Cattolicas keineswegs dafür bekannt, besonders kirchlich gesinnt zu sein. Warum also? Warum?
Cattolica hatte sich erhoben, sich bekreuzigt und mich bemerkt – er kam auf mich zu. »Nanu, was machst du denn hier?« fragte er mich leise.
»Ich habe mir die Beweinung angesehen«, antwortete ich und wies dabei mit dem Daumen in die Richtung der Statuengruppe.
»Ach, hast du die noch nicht gekannt?«
Doch, ich hätte sie schon gekannt, erklärte ich ihm, da ich sie