Krieg und Frieden. John Maynard Keynes
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So entwickelte Keynes mit seinem Vorschlag einer amerikanischen Anleihe für den europäischen Wiederaufbau nicht nur den blueprint für einen Marshallplan, wie er dann unter seinem wesentlichen Einfluß nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest dem westlichen Teil Europas zugute kommen sollte. Im Vorgriff auf das, was 1955 eine grundlegende Doktrin der Nato wurde, formulierte er zugleich das Postulat, daß Sicherheit vor Deutschland nur Sicherheit mit Deutschland sein könne. Vor allem aber plädierte er für die Gründung einer europäischen Freihandelsregion, der neben Deutschland und den anderen Staaten Zentral- und Osteuropas auch die Türkei angehören sollte. Tatsächlich erschien Keynes dieses Projekt derart dringlich, daß er in einer Passage, die den Artikel 23 des EWG-Vertrags von 1957 gleichsam vorwegnahm, für Deutschland sowie die 1919 neu geschaffenen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs eigens eine zehnjährige Mitgliedspflicht unter Aufsicht des Völkerbunds vorsah. Für alle anderen Länder hingegen, Frankreich und Italien zumal, sollte der Beitritt zur europäischen Wirtschaftsunion freiwillig sein. Dabei hielt Keynes die Beteiligung Großbritanniens von Anfang an zwar für sinnvoll und wünschenswert. Doch er ging gleichzeitig davon aus, daß England, dessen Zwischenkriegsjahre heute als »Zeitalter der Illusionen«6 gelten, sich in einem »Übergangzustand«7 befinde und deshalb »immer noch außerhalb Europas«8 stehe. Keynes’ Lehre aus Versailles – »jedenfalls mußte ich als Engländer, der an der Pariser Konferenz […] teilnahm, […] zum Europäer werden«9 – blieb allerdings nicht nur in seinem Heimatland weitgehend ungehört. Statt dessen sollte mit der Verwirklichung seiner Ideen erst rund vierzig Jahre später, nach einem weiteren Weltkrieg, durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begonnen werden. Und bis zur Teilhabe der 1919 neu entstandenen Staaten Osteuropas an einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, von der Keynes in seinem Entwurf ganz selbstverständlich ausgegangen war, mußten gar noch einmal fast fünfzig Jahre vergehen. Das Drama Europas mag seit den Tagen Keynes’ nicht zuletzt darin bestehen, daß sein Zusammenhalt eben nicht am lodernden Feuer verheißungsvoller Utopien erdacht und beschlossen, sondern im Gegenteil gegen sie erkämpft werden mußte, weil er – ganz ohne Fanfaren – schlicht eine zwingende Tatsache darstellt. Vernunft allein wärmt damals wie heute nicht jeden. Gerade Europas unentrinnbare Zweckmäßigkeit, mithin die Gefahr seiner Verunglimpfung als bloßer Zweckverband, wird seine Schwäche bleiben.
Was 1919 in Paris geschah, war ein Schauspiel, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte, und ein vergleichbares diplomatisches Massenspektakel hat es auch nie wieder gegeben. Paris, wo nicht nur die leeren Fensterhöhlen von Notre Dame, die schwarzgekleideten Frauen in den Straßen und die vielen Lazarette an den eben erst beendeten Krieg erinnerten, war damals sechs Monate lang nichts weniger als die Hauptstadt der Welt. In einer Zeit, in der der größte Teil des Globus keine eigene Staatlichkeit, sondern Kolonialstatus besaß, war außer dem revolutionären Rußland quasi die gesamte Menschheit vertreten. Während die Kriegsverlierer – Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei – mehr oder minder nur am Katzentisch saßen, waren 30 Länder aus allen fünf Kontinenten von den Siegermächten offiziell geladen. Und mit den Regierungschefs und ihren Ministern kamen nicht nur die Journalisten und Lobbyisten, sondern mehrere tausend Staatsbeamte und Unterhändler, Sachverständige und Berater, die sich tagaus, tagein in Gremien und Stäben, Kommissionen und Unterkommissionen zusammenfanden. Im Gefolge des amerikanischen Präsidenten sollen sich allein 1300 Bürokräfte befunden haben, die eigens aus den USA herübergeschifft worden waren. Hinzu gesellten sich zahllose politische Bittsteller jeglicher Couleur sowie ernannte und selbsternannte Fürsprecher all jener, die den Ruf Wilsons nach Freiheit und Selbstbestimmung für alle Völker persönlich nahmen. Die Kunde von den Vierzehn Punkten setzte noch in der entferntesten Erdengegend die Leute in Bewegung. Nicht alle kamen rechtzeitig: Die Vertreter der koreanischen Minderheit in Sibirien, die den weiten Weg nach Paris zu Fuß antraten, hatten zum Schluß der Hauptkonferenz Ende Juni 1919 nach monatelangen Märschen erst den Eismeerhafen Archangelsk erreicht. Andere wurden bitter enttäuscht. Ho Chi Minh etwa, der spätere Vietkong-Führer, der während der Konferenz als Küchengehilfe im Hotel Ritz arbeitete, stieß mit seinem Appell für das vietnamesische Volk auf ebenso taube Ohren wie der Schwarzenführer DuBois mit seiner Forderung nach der Unabhängigkeit Afrikas. Kein Gehör zu finden sollte 1919 nicht nur das Schicksal der Deutschen sein.
Versailles und die anderen Pariser Vorortverträge – Trianon, Saint-Germain, Sèvres und Neuilly – sind in vielerlei Hinsicht Dokumente des Übergangs. Denn mit dem Ersten Weltkrieg, dem Untergang des Zaren-, des Habsburger- und des Osmanischen Reiches sowie dem Eintritt der USA in die Weltpolitik war es nicht nur um das sogenannte Konzert der fünf europäischen Großmächte geschehen. Vorbei war es auch mit der aristokratischen Überschaubarkeit der diplomatischen Sphäre und somit der Institution des feierlichen Friedenskongresses, mit dem in Zeiten der klassischen »Großen Politik« die europäischen Kabinette das Mächtegleichgewicht nach jedem Waffengang neu austariert hatten. Für den völligen Strukturwandel der internationalen Beziehungen nach 1918 haben Historiker denn auch den Begriff der »Diplomatischen Revolution« geprägt. Gemeint ist die rapide Zunahme der auf der internationalen Bühne handelnden Staaten, das explosionsartige Anwachsen der Zahl außenpolitischer Akteure, die Konferenzdiplomatie und das Sondermissionswesen, die Völkerbundsidee und der Schiedsgerichtsgedanke, die Deklarationsdiplomatie und die Anerkennung der öffentlichen Meinung durch das Bemühen um demokratisch legitimierte public diplomacy statt der zuvor gepflegten Geheimpolitik. Der Pariser Konferenz mag eine dauerhafte Friedensordnung nicht gelungen sein; eine Epochengrenze der Völkerrechtsgeschichte und der internationalen Beziehungen bleibt sie allemal.
Indessen geriet 1919 der Konferenzmarathon schon seines schieren Ausmaßes und seiner Dauer wegen zur Karikatur der alten Kongreßidee. Nachdem in den ersten zwei Monaten mehr über die Beratungen in den Zeitungen gestanden hatte, als an Ergebnissen vorzuweisen war, hatten die Hauptsiegermächte vorerst genug von den Segnungen ihrer »Neuen Diplomatie« und zogen im März 1919 die Notbremse. So waren es am Ende doch wieder nur drei Männer, die über die Geschicke der Menschheit befanden: Wilson, der französische Premier Clemenceau und sein britisches Gegenüber Lloyd George. Der neue hohe Ton, mit dem Interessenpolitik zumindest öffentlich auch zu einer Frage der überlegenen Moral erklärt werden mußte, gab die Begleitmusik, derweil in recht herkömmlicher Großmachtmanier die Aufteilung gefallener Reiche und die neuen Grenzen Europas beschlossen wurden. Im Unterschied zum staatsmännischen Herrenclub alter Schule aber, wo man, wie Metternich 1814 meinte, »als Freunde«10 zusammengesessen hatte, war das Trio von 1919 binnen Kürze überkreuz. Clemenceau fand sich nach eigenem Dafürhalten »zwischen Jesus Christus auf der einen und Napoleon Bonaparte auf der anderen Seite«11. Es war denn auch vor allem dem heillosen Auseinanderdriften der Siegerkoalition geschuldet, daß die Deutschen allen diplomatischen Gepflogenheiten zum Trotz von einer gemeinsamen Diskussion ihres Friedensverdikts ausgeschlossen blieben. Das Vorbild für ein derartiges Diktat hatten sie ein Jahr zuvor im Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit den russischen Bolschewiki selber geliefert.
Das Büßerhemd, das man den Deutschen in Versailles überstreifen wollte, mochten sie freilich nicht anziehen. Die Empörung des deutschen Delegationschefs Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau war echt, als er – entgegen dem Rat sämtlicher Kollegen – die Alliierten bewußt brüskierte und bei der Übergabe der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 sitzen blieb. »Sie taten uns leid, als sie hereinkamen, und wir waren außer uns vor Wut, als sie gingen«12, beschrieb der französische Diplomat Paul Cambon die Reaktion der Alliierten auf Brockdorffs förmlichen Affront. Der durchaus konziliante Inhalt seiner Rede ging im allgemeinen Aufruhr unter. Die ohnehin geringen Chancen der im Château de Villette regelrecht internierten deutschen Delegation, doch noch an den Verhandlungstisch zu kommen, waren nun erst recht geschmälert. Dabei kamen nicht nur ihr die Friedensbedingungen einem vernichtenden Urteilsspruch gleich. So mancher Vertreter der Siegermächte reagierte schockiert, als er den riesenhaften Korpus des Friedenswerks am selben Tag wie die Deutschen erstmals in Gänze zu Gesicht bekam. Immerhin sollten die hernach nur schriftlich eingereichten