Krieg und Frieden. John Maynard Keynes
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Krieg und Frieden - John Maynard Keynes страница 3
Gleichwohl wollte sogar John Maynard Keynes in den Mitgliedern der deutschen Delegation weithin das populäre »Hunnen«-Klischee bestätigt sehen. Doch wer da die Weimarer Republik in Versailles als Delegierter und Sachverständiger vertrat – sei es der Pazifist Walther Schücking, die Privatbankiers Carl Melchior und Max Warburg, der Soziologe Max Weber oder der Völkerrechtler Albrecht von Mendelssohn-Bartholdy –, gehörte nicht unbedingt zum Schlechtesten, was die junge Demokratie aufzubieten hatte. Sie haben sich jedoch in Paris ebenso vergeblich bemüht wie später in Weimar, wo sie geschlossen dafür eintraten, die Unterschrift unter den Versailler Frieden zu verweigern. In der rachsüchtigen Pariser Atmosphäre empfanden die Sieger in ihrer »Gottgeschlagenheit«14, wie Thomas Mann es nannte, ohnehin selbst die Errungenschaften des neuen Deutschland als Provokation. Ihnen war es, so formulierte der Publizist Theodor Wolff seinerzeit treffend, »als zeige eine Familie von Neureichen mit übertriebenem Eifer den erst frisch erworbenen Schmuck«15. Andererseits ist das Unvermögen, sich beliebt zu machen, wie auch das kleinlich Nachtragende während der Weimarer Republik ein Charakterzug der deutschen Diplomatie geblieben. Als Wilson 1924 starb, weigerte sich die deutsche Botschaft in Washington als einzige Außenvertretung, ihre Flagge auf Halbmast zu setzen.
Ein vernichtender karthagischer Friede, wie Keynes im Juni 1919 nach seinem demonstrativen Rücktritt von der britischen Delegation zunächst meinte und im Dezember darauf in seinem Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages aller Welt verkündete, ist Versailles nicht gewesen. Sicher: Die Abtrennung von dreizehn Prozent des deutschen Staatsgebiets mit zehn Prozent seiner Einwohner war schmerzlich, besonders für eine Bevölkerung, der – anders als nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz der drastischen Auswirkungen der alliierten Hungerblockade die physische Erfahrung der Niederlage auf eigenem Boden erspart geblieben war. Die von zynischen Militärs aufgebrachte Dolchstoßlegende schien so manchem sehr viel einfacher zu akzeptieren. Der Verlust war aber, auch eingedenk der eigenen kaiserzeitlichen Siegfriedenspläne, zu verkraften, zumal es dem noch nicht einmal fünfzig Jahre alten Reich in Versailles womöglich sehr viel schlechter hätte ergehen können. Für seine Auflösung oder Zerschlagung haben sich 1919 nicht nur die Franzosen, sondern auch die Bayern interessiert. Aufgrund des Kollaps des Zarenreichs und der breiten Schütterzone ungefestigter neuer Klein- und Mittelstaaten im Osten war Deutschlands geopolitische Position nach Versailles sogar günstiger als vor dem Ersten Weltkrieg. Genau hierin lag freilich die Krux einer Friedensschikane, die in ihrem moralischen Triumphalismus die Warnung Machiavellis – »Demütige niemanden, den du nicht vernichten kannst«16 – außer acht gelassen hatte. Statt dessen lieferte die Entente Anreiz wie Legitimation für einen langfristigen militärischen Wiederaufstieg Deutschlands gleich mit, indem seine Entwaffnung, anders als proklamiert, nicht zum Auftakt einer allseitigen Abrüstung wurde. Mehr noch aber als die fragwürdigen Friedensbedingungen selber, und mehr auch als der wenig überraschende Unwillen der Deutschen, diese rückhaltlos zu akzeptieren, ist es die fatale Halbherzigkeit seiner Ausführung gewesen, die den Versailler Vertrag zum Menetekel der Epoche nach 1919 machen sollte.
Tatsächlich ist es den Friedensmachern von Paris noch nicht einmal gelungen, die Tatsache ihres Sieges im Ersten Weltkrieg zu konservieren. Dieses paradoxe Ergebnis stand schon 1919 fest, also noch bevor der amerikanische Kongreß die Ratifizierung des Versailler Vertrags auch im dritten Anlauf verweigerte und die USA sich in den Isolationismus zurückzogen. Denn der Völkerbund war schon wegen seiner militärisch zahnlosen Konzeption von Anfang an nicht geeignet, die zusammengebrochene Gleichgewichtsordnung der europäischen Mächte zu ersetzen. Und die beiden Parias der Weltpolitik, Deutschland und die Sowjetunion, blieben von diesem bloß ansatzweise konstruierten System kollektiver Sicherheit zunächst ohnehin ausgeschlossen. Schon 1922 fanden sie in Rapallo zusammen.
Während die USA sich davor scheuten, der Verantwortung ihrer neuen Weltmachtrolle gerecht zu werden, erwies sich Großbritannien als unfähig, den durch den Weltkrieg herbeigeführten Verlust seiner Vormachtstellung durch ein Konzept der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Konsolidierung des Kontinents abzufedern. Statt dessen war Lloyd George bald von der eifersüchtigen Sorge einer zu deutlichen Stärkung Frankreichs gegenüber Deutschland besessen. So wurde der »Frieden ohne Sieg«, den Wilson Anfang 1918 den im Weltkrieg Unterlegenen großherzig angekündigt hatte, vor allem für Frankreich Wirklichkeit, freilich in einem ganz anderen, tragischen Sinne. Denn mit dem Scheitern der in Paris bloß zaudernd versprochenen Sicherheitsgarantie durch Großbritannien und die USA stand fest, daß das wirtschaftlich wie bevölkerungsmäßig seinem Ostnachbarn weit unterlegene Land einem erneuten Angriff Deutschlands so gut wie hilflos ausgeliefert sein würde. Lloyd George freilich wußte Frankreichs Katastrophe im Juni 1940 nur mit den Worten zu kommentieren, Hitler sei »die größte Persönlichkeit in Europa seit Napoleon« – »und womöglich sogar größer als er«17.
Niemand hat nach dem Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung der immensen Kriegsschäden in Frankreich und Belgien bezweifelt. Auch die Deutschen nicht – trotz der rechenhaften Mitleidlosigkeit, mit der sie zuweilen den von ihnen angerichteten Verwüstungen die eigenen Verluste an Soldaten und die vielen Zivilopfer der alliierten Hungerblockade entgegensetzten. Durch die mangelnde Bereitschaft der Angelsachsen, sich auf dem Kontinent zu engagieren, und den Unwillen der USA zum finanziellen burdensharing mit seinen Kriegskoalitionären wuchs sich die Reparationsregelung allerdings von einem Entschädigungsproblem zum zentralen Ordnungsinstrument des Versailler Nachkriegssystems aus. Das Deutschland auferlegte Reparationsregime wurde gleichsam zum Substitut der unterbliebenen machtpolitischen Justierung Europas. Doch dieser Versuch, ein originär geo- und sicherheitspolitisches Problem, nämlich Deutschlands Übermacht auf dem Kontinent, durch wirtschaftliche Pressionen zu lösen, war – das sah Keynes ganz richtig – ebenso unvernünftig wie untauglich. Mit der Fesselung der größten europäischen Volkswirtschaft konnte der Wiederaufbau Europas, geschweige denn das Anknüpfen an die wirtschaftliche Vorkriegsherrlichkeit, kaum gelingen.
Als die deutsche Delegation nach dem Erhalt der Friedensbedingungen im Mai 1919 beklagte, das zarte Pflänzchen der Weimarer Demokratie könne nicht für die Taten des Kaiserreichs haftbar gemacht werden, hielt ihnen Clemenceau die Verträge von Frankfurt 1871 und Brest-Litowsk 1918 entgegen, die ebenfalls jeweils nach Revolutionen den französischen respektive russischen Nachfolgeregierungen vom Deutschen Reich auferlegt worden waren. In Brest-Litowsk hatten die Deutschen allerdings klug auf Reparationen verzichtet. Und ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen den Reparationen des Jahres 1871 und denen von Versailles war die Tatsache der durch den Weltkrieg bloß zeitweise unterbrochenen enormen wirtschaftlichen Verflechtung der europäischen Industrienationen. Von dem Ausmaß der industriellen Grenzüberschreitung und des ökonomischen Internationalismus in der Welt vor 1914 macht man sich gemeinhin keine Vorstellung: Tatsächlich ist der weltwirtschaftliche Globalisierungsgrad, der die europäisch dominierte Wohlstandsepoche in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auszeichnete, bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, also in unseren Tagen, noch nicht wieder erreicht worden.
Zwar hatte schon 1873 die von Frankreich unter dem Druck der deutschen Besatzung bewerkstelligte vorzeitige Rückzahlung seiner Kriegsreparationen in Deutschland eine Wirtschaftskrise ausgelöst, den sogenannten Gründerkrach. Das Reparationsregime der zwanziger und dreißiger Jahren aber sollte weitaus komplexere Wechselwirkungen hervorrufen. Insbesondere im industriellen Herzland Europas, vom Ruhrgebiet über Luxemburg bis nach Lothringen und an die Saar reichend, wurde dies nicht erst während der Ruhrkrise von 1923 deutlich, als die von der Ruhrkohle abhängigen belgischen und französischen Stahlwerke mangels Lieferungen aus Deutschland schließen mußten. Der ökonomische Zwangszusammenhang, das war Keynes’ zentraler Punkt, unterschied