Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer
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Читать онлайн книгу Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer страница 12
»Und seitdem?«
»Funkstille«, gab Max zu. »Ich habe ein paarmal versucht, ihn telegrafisch über unsere Kontaktleute in Lima zu erreichen, aber Fehlanzeige. Wie es scheint, ist Boswell spurlos verschwunden. Ich wollte noch einen Monat warten, ehe ich eine offizielle Vermisstenanzeige herausbringe.« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie Neuigkeiten, was aus ihm geworden ist?«
Statt einer Antwort kehrte Vanderbilt an seinen Platz zurück, griff unter den Tisch und brachte eine Ledertasche zum Vorschein. Es war ein abgewetztes, völlig stockfleckiges Teil, das so aussah, als habe es das letzte halbe Jahr im Hudson River gelegen. Max hielt den Atem an. Unzweifelhaft die Tasche von Boswell, eine Spezialanfertigung eines Lederwarenherstellers hier in der Stadt. Max erinnerte sich noch, wie stolz der Fotograf ihm seine Neuerwerbung präsentiert hatte, damals, ehe er in Richtung Süden aufbrach. Dreck und Reste von Pflanzenfasern fielen ab, als Vanderbilt die Tasche auf den Tisch legte. Der Zeitungsmogul zog ein Taschentuch aus der Hose, wischte sich kurz die Finger ab und machte sich dann daran, die lederne Deckklappe zu öffnen. »Diese Tasche wurde uns vor drei Tagen aus Lima zugeschickt«, sagte er, sichtlich angeekelt von dem schmutzigen Leder. »Sie kursierte dort für einige Zeit auf dem Schwarzmarkt, ehe einem aufmerksamen Zwischenhändler das Logo unserer Zeitung auffiel.« Er tippte auf das X und den umrahmenden Schriftzug. »Er setzte sich daraufhin mit unserem Kontaktmann in Verbindung, der in meinem Namen die Preisverhandlungen führte. Die Summe für den Rückkauf dieser Tasche war astronomisch. Mehr Geld, als Sie sich vorstellen können.«
»Und Boswell?«
»Von ihm fehlt bislang jede Spur. Wir wissen nur, dass er sich im Bereich der Colca-Schlucht aufgehalten hat. Wir werden bald eine Suchmannschaft vor Ort schicken, die nach seinem Verbleib forscht.«
Max schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist denn so besonders an der Tasche, dass Sie dafür Geld geboten haben? Für mich sieht sie aus wie ein wertloses Stück Leder. So etwas würde ich höchstens kaufen, um damit meine Frau zu erschrecken.«
Außer einem verhaltenen Räuspern blieb es still im Saal. Sein Scherz war offensichtlich auf unfruchtbaren Boden gefallen.
»Das liegt daran, dass Ihnen der Weitblick fehlt«, sagte Vanderbilt mit sarkastischem Unterton. »Was mich daran interessiert, ist weniger das Äußere als vielmehr ihr Inhalt. Sind Sie denn gar nicht daran interessiert, zu erfahren, woran Boswell gearbeitet hat, ehe er verschwand?« Der Zeitungsmogul bedachte ihn mit einem Lächeln, aus dem gleichzeitig Überlegenheit und Tadel herauszulesen war.
»Doch, natürlich …«
Vanderbilt ließ seine Wurstfinger im Inneren der Tasche verschwinden und holte vier reichlich ramponiert aussehende Metallbleche heraus. Fotoplatten.
Max beugte sich vor, konnte aber nichts erkennen. Mit gönnerhafter Miene ließ der Verleger jeweils zwei Platten nach rechts und zwei nach links wandern, während er aus verquollenen Augen die Reaktion seiner Redakteure beobachtete.
Diese ließ nicht lange auf sich warten. Ausrufe des Erstaunens waren zu hören, scharfes Einatmen, das Knarzen von Leder und das Rücken von Stühlen. Es dauerte nicht lange und kein einziger von den Redakteuren saß mehr auf seinem Platz, Max Pepper eingeschlossen. Alle waren aufgesprungen, um zu sehen, was Boswell da fotografiert hatte. Es bildete sich eine Traube von dunkelblauen Anzügen, weißen Hemden, Manschettenknöpfen, vernickelten Brillen und gesträubten Bärten. Es wurde geschoben und gedrängelt wie in der Schule bei der Milchausgabe. Schweißgeruch lag in der Luft. Max versuchte, sich vorzuarbeiten, scheiterte aber an der Aggressivität seiner Kollegen. Endlich gelang es ihm, seine Finger um eine der Metallplatten zu schließen und sie zu sich heranzuziehen. Er hielt sie im richtigen Winkel gegen das Licht und betrachtete die feinen Ätzungen.
Dann sagte er für längere Zeit nichts mehr.
5
Als es Max endlich gelang, seine Augen von der Aufnahme zu lösen, bemerkte er, dass Vanderbilt direkt neben ihm stand. Sein Gesicht war rot vor Erregung.
»Verblüffend, nicht wahr?«
Max’ Verstand bemühte sich, eine rationale Erklärung für das Gesehene zu finden, doch es gelang ihm nicht. »Sind Sie sicher, dass das keine Fälschung ist?«, brachte er schließlich mit krächzender Stimme heraus. »Irgendein optischer Trick, um uns an der Nase herumzuführen?«
Vanderbilt zuckte die Schultern. »Wenn es so wäre, hätten wir es mit einer verdammt guten Illusion zu tun«, sagte er. »So oder so, es wäre auf jeden Fall einen Artikel in unserer Zeitschrift wert. Aber wichtiger noch: Ich muss Boswell finden. Er muss darüber berichten, was er da fotografiert hat. Ich möchte, dass Sie sich darum kümmern, Max. Persönlich.«
Max hob den Kopf. Erst jetzt wurde ihm klar, was sein Verleger da von ihm verlangte. »Ich … ich soll nach Südamerika fahren?«
»Ganz recht. Und zwar so bald wie möglich. Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, Ihre Sachen zu packen und sich von Ihrer Familie zu verabschieden. Auf Ihren Namen ist ein Bahnticket ausgestellt, das Sie quer durch die Staaten bis nach San Francisco bringen wird. Von dort werden Sie mit dem Schiff Richtung Süden bis nach Lima fahren. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich regelmäßig bei mir melden.«
»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Max. »Ich bin Zeitungsredakteur, kein Abenteurer. Ich habe keine Ahnung von der Logistik eines solchen Unternehmens, geschweige denn von den Sitten und Gebräuchen eines Landes wie Peru. Und überhaupt: Was soll diese Eile? Ich sehe keinen Grund für einen überstürzten Aufbruch. Ich finde, wir sollten das alles noch einmal in Ruhe überdenken.« Seine Stimme wurde leiser. Er war sich mit einem Mal bewusst, dass das Gerangel an den Tischen beendet war und alle Augen sich auf ihn gerichtet hatten.
»Der Grund, mein lieber Pepper, ist folgender …«, Vanderbilt plusterte sich auf wie ein Truthahn. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass wir es mit einem unserer ärgsten Widersacher zu tun haben.«
»Dem National Geographic?«
Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Schlimmer. Wie wir aus Lima erfahren haben, hat es ursprünglich fünf Platten gegeben. Durch einen dummen Zufall scheint eine davon auf dem Schwarzmarkt an jemand anderen verkauft worden zu sein. Jemand, der uns allen bekannt sein dürfte und der uns große Schwierigkeiten machen kann. Sein Name …«, er legte eine Kunstpause ein, »… ist Carl Friedrich von Humboldt.«
Wieder waren Ausrufe des Erstaunens zu hören, diesmal jedoch durchsetzt mit Flüchen. Jeder in diesem Raum kannte den Namen. Der Forscher – der Legende zufolge ein illegitimer Spross des großen Alexander von Humboldt – hatte sich in den vorangegangenen Jahren als zäher Widersacher erwiesen. Immer, wenn irgendwo eine neue Insel, ein unbekannter Stamm oder gar eine verschollen geglaubte Kultur entdeckt wurde, war Humboldt schon vor ihnen da gewesen. Sei es in Madagaskar, in Tasmanien oder auf den Osterinseln. Er hatte Grönland genauso bereist wie Indien, Afghanistan und den Hindukusch. Der Mann schien ein untrügliches Gespür für interessante Standorte und einen schier unersättlichen Hunger auf Abenteuer zu haben.
An sich war daran nichts Verwerfliches, Abenteurer gab es genug. Dieser Humboldt neigte jedoch dazu, seine Funde zu publizieren und das National Geographic hatte bereits großes Interesse an seinen Berichten bekundet.
»Sie sehen also, mein lieber Pepper,