Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

      »Gar nichts? Was dagegen, wenn ich mir einen genehmige?« Der Mann nahm sich ein Glas und schüttete etwas von einer bräunlichen Flüssigkeit hinein, vermutlich etwas Hochprozentiges. Er nahm einen Schluck. »Setz dich«, sagte er und deutete auf ein breites Sofa gegenüber dem Tisch. Oskar blickte argwöhnisch zu Eliza. Als diese ihm zu verstehen gab, dass es in Ordnung wäre, ließ er sich steif auf den weichen Kissen nieder. Er versank beinahe darin.

      »Schon besser«, sagte der Mann. »Du fragst dich sicher, wo du bist und was ich von dir will, habe ich recht? Du sollst es erfahren, doch zunächst mal möchte ich damit beginnen, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Und wie heißt du?«

      »Oskar Wegener.«

      Sein Gastgeber deutete ein Nicken an. »Freut mich, dich kennenzulernen, mein Junge. Willkommen in meinem Heim.«

      Oskar setzte einen skeptischen Blick auf. Wieso war der plötzlich so freundlich? »Ist Ihr Name wirklich Humboldt? So wie der berühmte Entdecker?«

      »Du sprichst vermutlich von Alexander von Humboldt, meinem Vater.« Er warf Oskar einen kurzen Blick über den Rand seiner Brille zu. »Genau wie er darf ich mich in aller Bescheidenheit einen Naturforscher nennen. Du weißt doch sicher, was das ist?«

      »Natürlich.« Oskar reckte sein Kinn vor. »Jemand, der Schmetterlinge auf Nadeln spießt und sie dann in einen Schaukasten steckt.«

      Der Mann versteifte sich. »Ja, hm. Unter anderem auch das – wenn es die Forschung verlangt. Wobei das eher nicht zu meinem Tätigkeitsbereich gehört. In bin in erster Linie Entdecker. Ich bereise Orte, die zuvor noch nie erforscht wurden, beschreibe und kartografiere sie, sammele und beobachte die Flora und Fauna und stelle mein Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung.« Er deutete auf das schwere, ledergebundene Buch auf dem Tisch. »Was du hier siehst, ist der erste Band einer umfangreichen Enzyklopädie, an der ich gerade arbeite und die ich eines Tages zu veröffentlichen gedenke. Es wird das Standardwerk des neuen Jahrhunderts werden. Ein Lexikon für jedermann. Kompakt, umfassend und erschwinglich. Nicht nur etwas für die verkopften Professoren an unseren Universitäten. Ein aufgeklärtes Werk für aufgeklärte Denker.« Er trank den Rest und stellte sein Glas lautstark auf dem Tisch ab. »Ehe ich es herausgebe, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen. Noch ist die Welt nicht bereit für dieses Werk. Noch gibt es zu viele Personen, die es lieber verbieten lassen würden. Holzköpfe, die noch nie einen Schritt vor die eigene Tür unternommen oder einen Blick über die Hecken ihres mickrigen Vorgartens getan haben, die uns aber erzählen wollen, wie die Welt funktioniert. Ich habe vor, ihnen gehörig den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

      »Und was wollen Sie von mir?«, fragte Oskar herausfordernd.

      Humboldt hob die Augenbrauen. »Du hast mich bestohlen, schon vergessen?«

      Aha, jetzt war es mit der Freundlichkeit vorbei. Oskar schluckte. »Verstehe. Dann werden Sie mich jetzt der Gendarmerie übergeben?«

      »Nein.«

      »Nicht?« Oskar war verblüfft. Es dauerte eine Weile, dann fragte er vorsichtig: »Was dann?«

      Der Forscher gestattete sich ein schmales Lächeln. »Wie wär’s, wenn du mir ein bisschen was über dich erzähltest. Wo kommst du her, wer sind deine Eltern und was machst du so?«

      »Was ich so mache, haben Sie ja gesehen«, erwiderte Oskar. »Ich bin Botenjunge. Ich renne hin und her und stelle eilige Lieferungen zu. Kein besonders guter Job, aber man schlägt sich so durch.«

      »Und da kam dir der Gedanke, mir meine Börse zu klauen.«

      Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn. »So offen, wie Sie Ihr Portemonnaie heraushängen lassen, war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie jemand bestiehlt«, sagte Oskar und setzte noch einen obendrauf: »Sie haben das regelrecht herausgefordert. Eigentlich bin ich derjenige, der sich beschweren müsste. Sie haben mich in Versuchung geführt. Geradezu kriminell, so ein Verhalten.«

      Der Forscher lachte. »Du kannst mich ja anzeigen. Ich frage mich, wem der Richter wohl glauben würde. Aber jetzt mal im Ernst: Was ist mit deinen Eltern? Was machen sie und wo leben sie?«

      Oskars Augen wurden schmal. »Meine Eltern sind tot«, stieß er hervor. »Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war, und meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl ein ziemlicher Rumtreiber. Vielleicht ein Seemann oder so.«

      »Das tut mir leid«, sagte der Forscher mit ernstem Gesicht. »Dann warst du sicher schon sehr früh auf dich allein gestellt.«

      Oskar winkte ab. »Die meiste Zeit war ich im Heim. Irgendwann wurde es mir zu dumm. Ich bin dort weg und habe mich selbstständig gemacht. Straßenkehrer, Botengänge, Aushilfsdienste. Was man halt so macht, wenn man nicht weiß, was man am nächsten Tag fressen soll. Aber das Gefühl kennen Sie vermutlich nicht.«

      »Besser, als du denkst«, erwiderte der Forscher knapp, ohne näher darauf einzugehen. Er nahm sein Glas wieder vom Tisch und stellte fest, dass es bereits leer war. Gedankenverloren drehte er es zwischen seinen Fingern.

      Oskar beobachtete den Mann eine Weile unter seinen gesenkten Augenbrauen. »Hören Sie, dieses Gespräch führt zu nichts«, sagte er. »Machen Sie es kurz. Übergeben Sie mich einfach den Behörden und vergessen Sie die ganze Sache. Damit wäre jedem gedient.« Und er wäre nicht länger in den Händen dieses Verrückten, dachte Oskar. Den Gendarmen war er schon oft genug entwischt, darin hatte er Übung.

      Um Humboldts Mund spielte ein schmales Lächeln. »Dich nur hinter Gitter zu sperren wäre viel zu einfach. Es würde dir auch nicht gerecht werden, denn immerhin hast du deine Sache ja recht gut gemacht. Die meisten Trickbetrüger sind absolute Dilettanten. Armselige Taschenspieler. Man sieht ihnen schon aus zehn Meter Entfernung an, dass sie etwas im Schilde führen. Deine Nummer mit dem Aktenordner hingegen war ausgezeichnet.« Oskar wollte protestieren, aber Humboldt hob die Hände. »Ja, ja, ich weiß, du bist nur ein einfacher Botenjunge, aber nehmen wir mal an, du wärst keiner. Nehmen wir mal an, du wärst ein ganz gewöhnlicher kleiner Taschendieb …«

      Jetzt also doch, was hatte der Mann nur mit ihm vor? Warum rief er nicht endlich die Gendarmen?

      »… dann hättest du deine Sache sehr gut gemacht. Die Sache mit der Verkleidung, den Akten und der anschließenden Flucht über die Dächer – merveilleux!«

      Oskar wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber es klang wie ein Lob.

      »Nicht gut genug, fürchte ich«, murmelte er.

      Humboldts Augen leuchteten geheimnisvoll. »Nun, was das betrifft – eigentlich hattest du gar keine richtige Chance.«

      »Wie meinen Sie das?«

      Statt einer Antwort öffnete der Forscher eine Schublade. Er zog das Portemonnaie heraus, das Oskar ihm gestohlen hatte.

      »Erinnerst du dich daran?«

      »Allerdings.«

      Der Forscher wedelte mit der Geldbörse. »Fragst du dich nicht, wie ich dich gefunden habe?«

      »Doch, allerdings. Ich war doch schon längst im Haus. Es war unmöglich, mich zu sehen. Woher wussten Sie, welche Richtung ich einschlagen würde?«

      Humboldt öffnete das Portemonnaie. »Sieh her.«

      Er

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