Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer
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Читать онлайн книгу Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer страница 3
Er blieb stehen und lauschte. Da. Da war es wieder. Erst schwach, dann immer stärker werdend. Irgendwo über ihm prasselte eine Handvoll Steine in die Tiefe. Panik stieg in ihm auf. Er kannte dieses Geräusch. Er kannte es nur zu gut.
Er drehte sich um und schaute nach hinten. Niemand zu sehen. Der Vorsprung war leer. Auch der Blick nach oben und unten ergab nichts. Hatte er sich das etwa nur eingebildet?
Er wartete noch ein paar Sekunden und wollte sich gerade wieder nach vorn wenden, als er das Geräusch erneut vernahm. Diesmal näher. Es kam von irgendwo über ihm. Alarmiert spähte er nach oben. Eine tief hängende Wolke versperrte ihm die Sicht. Angestrengt versuchte er, den Dunst mit seinen Augen zu durchdringen. Plötzlich sah er etwas. Eine schnelle Bewegung in der Wolke. Irgendetwas Riesenhaftes.
Vor Angst beinahe gelähmt, wandte er sich wieder nach vorn. Alle Vorsicht beiseite lassend, vergrößerte er seine Schritte. Noch etwa hundertfünfzig Meter. Ein blaugrünes Gestrüpp von Dornen und Kakteen markierte das Ende des Himmelspfades. Dahinter begann der Wald. Er wusste, dass er dort in Sicherheit war. Knappe hundert Meter, eine lächerliche Entfernung für einen durchtrainierten Mann wie ihn. Doch ihm blieb kaum Zeit. Das Wesen war auf der Jagd und es war schnell. Im Gegensatz zu ihm war es an das Leben in der Vertikalen gewöhnt.
In diesem Augenblick traf er eine Entscheidung. Die Tasche mit dem wertvollen Inhalt unter den Arm geklemmt, löste er die Hände vom Fels und begann zu laufen. Erst langsam, dann mit stetig zunehmender Geschwindigkeit. Der bodenlose Abgrund unter seinen Füßen flog nur so dahin. Schneller und schneller bewegten sich seine Beine, den Abstand zwischen sich und dem Ende des Himmelspfades immer weiter verkürzend. Hundert Meter … fünfundsiebzig … fünfzig Meter.
Das Ende der Felswand war bereits in greifbare Nähe gerückt, als der Schatten des Verfolgers auf ihn fiel. Ein überwältigender Gestank drang ihm in die Nase. Es roch wie eine Mischung aus Rosenöl und Knoblauch. Er hörte Atemgeräusche, gefolgt von einem zischenden Laut. Ein Brennen stach ihm in den Rücken. Seine Hand fuhr nach hinten, konnte die schmerzende Stelle aber nicht erreichen. Noch einmal zischte es. Diesmal stach ihn etwas in die Schulter. Den Kopf drehend, gewahrte er einen Stachel, lang und dünn wie ein chinesisches Essstäbchen, der tief in seinem Oberarm steckte.
Seine Sinne begannen sich zu verwirren. Die Pflanzen, die eben noch in greifbarer Nähe waren, schienen sich immer weiter von ihm zu entfernen. Es war wie verhext. Es sah aus, als bestünde der Sims unter seinen Füßen aus Gummi, den eine unbekannte Kraft in die Länge zog.
Die Hoffnung verließ ihn. Er geriet ins Straucheln. Sein Fuß blieb an einem Stein hängen. Er stolperte, taumelte, dann trat er ins Leere. Geröll löste sich und prasselte in die Tiefe. Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, doch er konnte den Sturz nicht mehr verhindern. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er, irgendwo Halt zu finden. Doch da war nichts. Kein Stein, kein Zweig, kein Ast.
Dann fiel er.
Mit zunehmender Geschwindigkeit raste die Felswand an ihm vorbei. Sie besaß keine Vorsprünge oder Vertiefungen, nichts, woran man sich festhalten konnte. Unaufhaltsam schoss er in die Tiefe. Der Wind steigerte sich zu Orkanstärke, während er immer schneller wurde. Ein Brausen und Grollen lag in der Luft, das seine Ohren zu sprengen drohte. Er versuchte zu schreien, doch das Dröhnen ließ sich nicht übertönen. Bilder seiner Vergangenheit flackerten vor seinem inneren Auge auf, vermischten sich mit Wahnvorstellungen. Zweifelsfrei eine Folge des Giftes, mit dem die Stacheln getränkt waren. Und dann, mit unauslöschlicher Gewissheit, wurde ihm bewusst, dass er sterben würde. Aus, vorbei. Seine Reise, sein ganzes Wissen, umsonst.
Was für ein Jammer!
Als er Minuten später in ein Fangnetz fiel, war er bereits ohnmächtig. Er spürte nicht, wie das kunstvoll geflochtene Gewebe seinen Sturz abbremste und schließlich gänzlich abfing. Er bekam nicht mehr mit, wie sich das schlanke Flugschiff mit den farbigen Markierungen und den geblähten Segeln näherte. Er bekam auch nichts davon mit, wie ein Hebearm ausgefahren wurde und ihn an Bord holte.
Als sich seine Umhängetasche von seinen Schultern löste und tief unter ihm in die rauschenden Fluten des Colca klatschte, war er bereits auf dem Weg in tiefes Vergessen.
Teil 1
Die Wiege der Rätsel
1
Berlin, drei Monate später …
Von dem Augenblick an, als Oskar den Mann zum ersten Mal sah, wusste er, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Die Erscheinung schlug ihn sofort in seinen Bann. Einmal abgesehen von der beeindruckenden Größe – der Kerl war vielleicht eins neunzig groß und breit wie ein Schrank –, seinem hohen, schlanken Zylinder, dem pechschwarzen Ledermantel und den eisenbeschlagenen Stiefeln, war es vor allem der prächtige Spazierstock, der seine Aufmerksamkeit erregte. Wie alles an ihm war auch dieser von so allumfassender Schwärze, dass er das Licht gänzlich zu schlucken schien. Einzig der Knauf in Form eines Löwenkopfes leuchtete in einem hellen, strahlenden Goldton. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, doch Oskar erkannte eine scharf geschnittene Nase, die einem Falkenschnabel nicht unähnlich sah, eine schmale Brille, sowie glatt rasierte Wangen. Die Haare waren an den Schläfen etwas grau und am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten. Die Augen waren auf die Auslagen eines Fachgeschäftes für Degen, Säbel und Rapiere gerichtet. Etwas Gefährliches umwehte diesen Mann wie ein kalter Wind. Oskar hätte normalerweise einen weiten Bogen um ihn gemacht, wäre da nicht diese unerklärliche Neugier gewesen. Was wollte ein solch wohlhabender Mann in dieser – zugegeben – nicht besonders exklusiven Einkaufsgegend? Was mochte er für einen Beruf haben und, was am Interessantesten war, was mochte er wohl an Wertgegenständen bei sich führen? Andererseits: Der Mann sah nicht so aus, als würde er sich leicht bestehlen lassen. Vielleicht sollte er doch lieber vorsichtig sein.
Oskar hatte sich schon entschieden, ein anderes Opfer auszuwählen, als sein Auge von einem Detail angezogen wurde. Aus der einen Manteltasche lugte der Zipfel eines hellbraunen Lederetuis hervor. Eines dieser Etuis, die neuerdings aus Paris importiert wurden und in denen man Geld aufzubewahren pflegte. Ein sogenanntes Portemonnaie.
Die Versuchung war einfach zu groß.
Er verdrückte sich in einem Hauseingang, holte ein Fläschchen Duftwasser aus seiner Tasche und sprühte sich ein, um den unangenehmen Geruch der Gosse zu überdecken. Er tat dies, ohne lange darüber nachzudenken. Der Trick, als Dieb erfolgreich zu sein, bestand darin, weder wie ein Dieb auszusehen noch wie einer zu riechen. Nichts mieden die wohlhabenden Herrschaften mehr als den Anblick von Schmutz und Armut. Wer in seinem Metier erfolgreich sein wollte, der musste sich eine Arbeitskleidung zulegen. Hose und Jacke aus englischem Tweed, die Schuhe aus gutem Rindsleder, gefertigt in der Schusterei Hambacher & Co., und auf dem Kopf eine Filzmütze, wie sie gerne von Studenten und Lehrlingen getragen wurde. Oskar war auf den ersten Blick nicht von einem jugendlichen Angestellten zu unterscheiden. Derart getarnt und unter den Arm einen Aktenordner geklemmt, der sein Auftreten als Dienstbote unterstrich, konnte er sich seinen Opfern nähern, ohne dass diese gleich mit angewidertem Gesichtsausdruck die Straßenseite wechselten.
Mit schnellen Schritten lief Oskar vor einem vorbeifahrenden Pferdegespann auf den gegenüberliegenden Bürgersteig und näherte sich dem Mann. Die Mütze leicht nach unten gezogen und seine Augen beschattend, tat er so, als würde er die Angebote hinter der Fensterscheibe studieren. Als er auf gleicher Höhe war, blieb er stehen. Mit einem anerkennenden Pfiff zwischen den Zähnen sagte er: »Na, das nenn ich mal schöne Klingen, was? So fein blank poliert, dass man sich drin spiegeln kann.«
Der Fremde bewegte seinen Kopf um