Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman. Laura Martens
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»Solange Sie sich durch die Schokolade nur graben, kann
es nichts schaden«, entgegnete
die Sprechstundenhilfe amüsiert. »Davon abgesehen, habe ich Ähnliches schon öfters von unseren Patienten gehört. Doch das vergeht zum Glück.«
»Wollen wir es hoffen«, bemerkte Melanie skeptisch und nahm im Wartezimmer Platz.
Dr. Baumann brachte Lina Becker, die ihn erneut wegen Gallenschmerzen aufgesucht hatte, nach draußen. Sie wußten beide, daß sie um eine Operation nicht herumkommen würde, aber noch hoffte Frau Becker, daß ein Wunder geschehen würde. Sie hatte Angst vor der Operation. Weniger, weil sie befürchtete, nicht wieder aufzuwachen, als vor dem Gefühl, für einige Zeit nicht mehr Herr ihrer Selbst zu sein und sich völlig anderen Menschen ausliefern zu müssen.
»Warten Sie nicht zu lange, Frau Becker«, warnte Dr. Baumann, als er ihr die Hand reichte.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach Lina Becker. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor.«
»Auf Wiedersehen«, antwortete Eric und bat Tina, den nächsten Patienten aufzurufen. Er wollte schon in sein Sprechzimmer zurückkehren, als Heinz Seitter die Praxis betrat. Dr. Baumann blieb noch einen Moment stehen, um mit dem Steuerinspektor a. D. einen kurzen Gruß zu wechseln. Erneut fragte er sich, ob es sich bei dem Finanzbeamten, von dem sein Studienkollege gesprochen hatte, um denselben Heinz Seitter handelte, der, seit er in Tegernsee lebte, zu seinen Patienten gehörte.
Melanie wurde aufgerufen. Sie legte ihre Zeitschrift beiseite und trat ins Sprechzimmer. Dr. Baumann reichte ihr die Hand. »Na, wie fühlt man sich in Freiheit?« erkundigte er sich.
»Wie neugeboren«, erwiderte die junge Frau. »Soweit man von Freiheit sprechen kann, wenn man sich jeden Tag zweimal mit Insulin spritzen muß.« Sie winkte ab. »Doch es gibt Schlimmeres.« Um ihre Lippen huschte ein flüchtiges Lächeln. »Das ist wenigstens Jörgs Meinung gewesen, als er mich ins Krankenhaus gebracht hat.«
»Und womit er zweifelsohne recht hat.« Der Arzt bat sie Platz zu nehmen.
Während der nächsten zehn Minuten sprachen sie über ihre weitere Behandlung. Dr. Baumann schrieb ein Rezept für Spritzen und Humaninsulin aus.
Melanie nannte ihm den Namen der Pension, in der sie sich ein Zimmer genommen hatte. »Es mag lächerlich klingen, doch ich halte es für sehr wichtig, so nahe wie möglich bei meinem Freund zu sein«, meinte sie.
»Ich habe heute morgen mit dem Vater Ihres Freundes gesprochen«, sagte Eric. »Herr Thomson ist sehr froh, daß es Sie gibt.«
»Dabei hat er früher alles versucht, um Jörg und mich zu trennen«, bemerkte die junge Frau. »Davon abgesehen, kann ich es ihm nicht einmal verdenken. Er muß von Anfang an gespürt haben, daß ich nicht zu den Gästen gehöre, die gewöhnlich in seinem Hotel absteigen, und später hat er mich sogar für eine Hochstaplerin gehalten.«
»Was ihm inzwischen leid tut.«
»Mag sein, gesagt hat es mir Herr Thomson jedenfalls noch nicht. Wenn wir uns an Jörgs Bett treffen, ist er höflich und sehr freundlich zu mir, aber wir sprechen kaum miteinander. Seine Frau ist da anders. Ich habe sie sehr gern.«
»Herr Thomson gehört zu den Leuten, denen es schwerfällt, einen Fehler zuzugeben«, meinte der Arzt. »Glauben Sie mir, wenn Sie ihn erst einmal näher kennengelernt haben, werden Sie ihn mögen.« Er zwinkerte ihr zu. »Spätestens, wenn Sie und Ihr Freund heiraten…«
»Und wenn Jörg nicht mehr aus dem Koma erwacht?« fragte Melanie. »Wenn…« Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Aufschluchzend vergrub sie das Gesicht in den Händen.
Dr. Baumann stand auf und trat hinter die junge Frau. »Ich weiß, daß es sehr schwer ist, Frau Berger, trotzdem müssen Sie ganz fest daran glauben, daß Ihr Freund wieder zu sich kommt.« Er legte die Hände auf ihre Schultern. »Ich bin überzeugt, daß er nicht nur verstehen kann, was Sie sagen, wenn Sie an seinem Bett sitzen und mit ihm sprechen, sondern daß er auch Ihre Stimmung spürt.«
Melanie atmete tief durch. »Sie haben natürlich recht, Doktor Baumann«, meinte sie. »Nur jeder Tag, der vergeht, erhöht das Risiko, daß Jörg, wenn er aus dem Koma erwacht, behindert sein könnte.«
»Das will ich nicht abstreiten«, antwortete Eric, »andererseits gibt es sehr viele Fälle, in denen auch nach einem langanhaltenden Koma keine Spätfolgen eingetreten sind. Und ihr Freund hat sehr viel Glück im Unglück. Er hat keine schwerwiegenden Verletzungen bei dem Unfall davongetragen. Sein Koma ist einzig und allein auf den Schock zurückzuführen.«
»Ja, das ist wahr.« Melanie stand auf. »Wer weiß, vielleicht wird Jörg bereits morgen erwachen.« Sie strich sich mit einer müden Bewegung die Haare zurück. »Ach so, haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Franzl ein Stückchen spazierengehe? Ich habe es ihm versprochen.«
»Vermutlich wird er vor der Praxis auf Sie warten.« Dr. Baumann öffnete die Tür. »Ich habe nichts dagegen«, sagte er. »Ein Spaziergang mit Franzl wird Ihnen guttun. Am besten, Sie lassen sich von meiner Haushälterin einen Ball geben.« Er reichte ihr die Hand. »Verlieren Sie nicht den Mut. Es wird schon alles ins Lot kommen.«
»Ist das ein Versprechen?« fragte Melanie, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, sagen Sie nichts, Doktor Baumann, meine Frage ist mehr als unfair gewesen. Sie können genauso wenig in die Zukunft schauen wie ich.«
»So gut es manchmal wäre, einen Blick in die Zukunft zu tun, ich bin froh, daß ich es nicht kann«, erwiderte er. »Unser Leben würde um vieles ärmer sein, wenn man schon im voraus wüßte, was die nächsten Stunden bringen. Außerdem ist Hoffnung eine starke Antriebskraft im Leben jedes Menschen.«
Melanie nickte. »Und worauf sollten wir noch hoffen, wenn wir in die Zukunft sehen könnten?« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde Franzl in etwa einer Stunde zurückbringen.«
»Viel Spaß«, wünschte er.
»Danke«, sagte die junge Frau und verließ die Praxis.
Franzl, der die ganze Zeit vor der Praxis im Gras gelegen hatte, sprang auf. Er begrüßte Melanie so enthusiastisch, als würde er sie schon ein Leben lang kennen und hätte sie ewig nicht mehr gesehen.
»Weißt du, was ich mir wünsche?« fragte sie und nahm seinen Kopf in beide Hände. »Daß Jörg und ich dich eines Tages gemeinsam ausführen können.« Franzl drehte blitzschnell den Kopf und fuhr mit der Zunge über ihre Hand, dann rannte er zu dem Apfelbaum, unter dem er meistens lag, und kam gleich darauf mit einem Ball zurück. Herausfordernd warf er ihn der jungen Frau vor die Füße.
*
Maria Thomson nahm zärtlich die Hand ihres Sohnes und drückte sie. »Du fehlst uns so sehr, Jörg«, sagte sie und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen.
»Ja, da kann ich deiner Mutter nur beipflichten«, meinte Gerhard Thomson und strich hilflos über Jörgs Haare. »Seit du dich vor der Arbeit im Hotel drückst und es dir gefällt, schlafend im Krankenhaus zu liegen, weiß ich nicht mehr, was ich zuerst machen soll. Also beeil dich mit dem Aufwachen. Wir brauchen dich, du ahnst nicht, wie sehr.« Er drehte sich halb um. »Da kommt deine Freundin, Jörg. Ihr wird es auch nicht anders gehen als uns.«
Melanie