Die Pandemie. Rainer Marten
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Pandemie - Rainer Marten страница 2
»Alle Völker«
Dem wörtlichen Sinne nach bedroht eine Pandemie das ganze Volk, alles Volk, alle Völker. Das aber heißt, dass das Virus Sars-CoV-2, das die Erkrankung Covid-19 verursacht, »vulgär« (vulgus: das gemeine Volk) ist: Es treibt sich überall herum, macht bei den Menschen keinen Unterschied, sondern verhält sich vulgivagus, die lateinische Übersetzung von griechisch pandemisch. Platon unterscheidet die pandemische Aphrodite von der uranischen, der himmlischen. Die pandemische ist die gemeine, die sinnliche Liebe, die uranische hingegen die geistige, zu der allein der geistige Mensch, der nicht alltägliche, fähig ist. In der pandemischen Bedrohung sind alle Menschen gleich, sofern sie Menschsein auf seinen allgemeinsten Nenner bringt: auf das Lebewesen sein. Wenn die Pandemie die Menschen, die jetzt die Erde bewohnen, vereint, dann einzig insofern, als jedes Exemplar ein lebendiger Organismus ist. Die den Menschen gleiche Bedrohung, an Covid-19 zu erkranken, trifft nicht das Selbstbewusstsein des Menschen, Mensch zu sein. Zu sehr dominieren die das gesellschaftliche Leben fundierenden Ungleichheiten, als dass die physiologische Gleichheit ein menschliches Einheitsgefühl erzeugen könnte. Alle Länder, alle Staaten, alle Ethnien, alle Kulturen, alle Zivilisationen, die Menschen jeder Hautfarbe – das alles unter dem Aspekt organismischer Lebendigkeit vereinigt zu sehen, nein, dazu hat diese neuartige, in ihrer Gewalt noch immer unabsehbare gegenwärtige Bedrohung keine Macht. Wer dagegen hält, dass aber doch im Tode alle gleich sind, weil er das Ende des – allen gemeinen – organischen Lebens bedeutet, hat vermutlich noch kein keltisches Fürstengrab gesehen.
Gesellschaftliches Leben fundierende Ungleichheiten
Ist schon gemeinschaftliches menschliches Leben durch Ungleichheiten der miteinander Lebenden geprägt, dann sind für das gesellschaftliche Leben Ungleichheiten die fundamentalen Impulse für das Miteinander und auch Gegeneinander. Bereits die Vielfalt der Kulturen führt dazu, dass sich der Umgang mit den fundierenden Ungleichheiten unterscheidet. Es genügt, auf die Kulturdifferenz aneinander angrenzender Länder wie Frankreich und Italien zu verweisen. Im staatlichen Coronamanagement geben die Franzosen den Jungen mehr Freiheiten als den Alten, die Italiener den Alten mehr als den Jungen. Doch Ungleichheiten differieren weit mehr noch als durch die Vielfalt der Kulturen dadurch, dass sie sich untereinander potenzieren. Das lässt sich an wenigen gesellschaftlich relevanten Ungleichheiten hinreichend demonstrieren: Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Vitale und Schwache, Reiche und Arme, Privilegierte und Benachteiligte. Wie ungleich allein schon durch dies Wenige das Alter aussieht: der gesunde und der kranke Alte, der vitale und der schwache Alte. Wer wegen Immunschwäche, angeboren oder erworben, dem Coronavirus aus eigener Natur nichts entgegenzusetzen hätte, weiß sich als Reicher, der über ein Zweithaus in einsamer Natur verfügt, ungleich besser vor der Bedrohung durch die gegenwärtige Pandemie zu schützen als der in ärmlichen Verhältnissen Lebende. Altsein in Gated Communities und in Mietskasernen – was sollte ungleicher sein? Ein armes Paar mag glücklich sein in seiner Zweizimmerwohnung, glücklich und geborgen, ein reiches unglücklich von weiter Natur oder Sicherheitskräften geschützt – das wäre nur wieder eine neue, das persönliche Leben prägende Ungleichheit, mit sich und dem Anderen im Reinen oder mit sich und dem Anderen im Unreinen zu sein. Dabei kann es sein, dass die »gleiche« Bedrohung, an Covid-19 zu erkranken, die Armen weniger ängstigt als die Reichen.
Nicht alle von der Erkrankung an Covid-19 Bedrohten wissen sich bedroht, fühlen sich bedroht. Es gibt sogar über diese Bedrohung Belehrte, die sie praktisch nicht wahrhaben wollen, so dass sie, obwohl bedroht und eigentlich darum wissend, unbedroht leben, dies mitunter bis zur eigenen Erkrankung und Erfahrung der Todesnähe. Geheilt sind sie die eifrigsten bei dem Versuch, ein Wir-Gefühl der durch Covid-19 Bedrohten zu erzeugen. Doch selbst diese gut begründeten und mit Elan betriebenen Versuche scheitern und werden das weiterhin tun. Die Ungleichheit der Bedrohten ist zu groß, ihr Eigeninteresse zu stark. Gute Chancen hat das Wir-Gefühl dagegen im Kleinen: bei den Pflegern auf einem Flur, in einem Ärzteteam, in einer Familie, bei einem Paar. Da hat es auch nichts emotional Überschwängliches, sondern ist unmittelbar von positiver lebenspraktischer Bedeutung. Nein, da ist nichts davon zu spüren, dass die Menschheit durch die Corona-Krise näher zusammenrückte. Nicht der Planet Erde als die Wohnstatt aller steht auf dem Spiel. Dafür sorgt der Klimawechsel. Nicht die Existenz des Menschen steht auf dem Spiel. Damit drohen Atomwaffen. Das persönliche Leben sehr vieler steht auf dem Spiel, und dies in komplexer Hinsicht.
Leben wird durch den Tod bedroht
In Kriegen zwischen Ethnien und Staaten werden der Befehl zum Töten und die Ausführung des Befehls belohnt. Jeder lebende Gegner ist ein Lebender zu viel. Werden eine Stadt, ein Land von einer Krankheit unbekannter Natur epidemisch überfallen, dann sind sich die Überfallenen darin einig, mit allen Kräften die Krankheit bekämpfen zu müssen. Hat im Kriege das Leben des Gegners keinen Wert, dann hat bei einer gemeinsamen Bedrohung selbstverständlich das Leben eines jeden den gleichen Wert. Als die unbekannte Pest Athen überfiel, waren Ärzte, wie Thukydides berichtet, bis zur Selbstaufopferung bereit, Menschenleben zu retten. Das ist nicht selbstverständlich. Mit einem Klumpfuß Geborene wurden im antiken Griechenland in der Wildnis ausgesetzt. Man überließ es einem Gottesurteil, ob sie überleben oder nicht. Der Freiburger Mediziner Alfred Hoche schlug in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vor, »unwertes Leben« von Behinderten aus dem gesunden Volkskörper »auszustoßen«. Für gewisse Ethikräte und Politiker ist die Frage wieder aktuell geworden, ob es nicht sinnvoll, ja geboten ist, im Sinne des darwinistischen survival of the fittest dem jungen Leben gegenüber dem alten einen Mehrwert zuzuerkennen. Covid-19 in gesellschaftlicher Perspektive als Sterbehilfe der anderen Art? Das »Problem« mit den Alten, nämlich mit ihrem unnützen, nur Kosten verursachenden Leben, hat vielerlei »Lösungen« gefunden. Eine davon war das »Austragshäusel« im ländlichen Bayern. Es war für die beiden Alten und den schließlich nurmehr einen Alten bestimmt. Enkel trugen das Nötige zum Lebenserhalt hinüber. Es war nicht die Regel, aber auch nicht unüblich, dass die Versorgung knapp bemessen wurde, um das Leben nicht unnötig zu verlängern. Dabei hat das Alter seine ganz eigene Bedeutung für das Leben, wenn es schon alt werden darf. Ist einer nicht von außerordentlicher Vitalität, so dass er noch mit Mitte 90 am Dirigentenpult steht, so ist die Zeit des entinstrumentalisierten Lebens das Geschenk, sie als »Schule der Endlichkeit«1 zu nutzen.
Wirtschaftlichen Existenzen droht der Ruin
Die Lebenswerke kleiner und großer Unternehmer sind vom Ruin bedroht. Was im viralen Frieden allenfalls durch bewusste »Vernichtung« eines konkurrierenden Unternehmens erreicht wird, bewusst im Sinne der darwinistischen Wirtschaftstheorie von Joseph Schumpeter, die in der Optimalform des kapitalistischen Wirtschaftens sich das »Niederkonkurrieren« und die »soziale Deklassierung« zum Ziel setzt, und dies nicht aus Eigennutzen, sondern in der »Freude am Werk, an der Neuschöpfung als solcher«, des »Erfolghabenwollens des Erfolgs als solchen wegen«, nicht wegen des gesellschaftlichen Nutzens, sondern aus Spaß an der Innovation um der Innovation willen:
Auch auf die ultima ratio der völligen Vernichtung der mit hoffnungslos Unangepaßtem verbundenen Existenz kann diese Wirtschaftsform nicht gut verzichten.2
Unternimmt Politik im viralen »Krieg« (Emmanuel Macron) das in ihren Augen Nötige, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen,