Die Pandemie. Rainer Marten

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Die Pandemie - Rainer Marten Blaue Reihe

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der liebt.5 Längst ist es das Wort für Einfühlung in den je Anderen und das sich von ihm her selbst neu Verstehen. Philosophen sprechen von der doppelten Alterität: Der Andere ist ein Anderer und er ist anders. Anderheit und Andersheit gehören zusammen, wenn es um Identitätsbildung geht, die sich auf praktizierte Alterität stützt. Empathie ist so nicht eine gelegentliche Möglichkeit, für Andere aufgeschlossen und nett zu ihnen zu sein. Empathie – das ist das Kennzeichen des empfindenden Menschen, der für das menschliche Ensemble geeignet und nötig ist. Empfindung meint dabei freilich das, was Proust eine echte (authentische) Empfindung nennt, die den Künstler braucht, um den rechten Ausdruck für sie zu finden, in diesem Falle den Lebenskünstler, der sich auf das Teilen des Lebens versteht. Die gängige moderne Deutung von Empathie als »Einfühlung« geht von einem solipsistisch gesteuerten Vorgang aus: mit einfühlendem Verstehen in einen fremden Anderen einzudringen, um gegebenenfalls auf einen als Mörder gedingten Kriminellen zu stoßen, für dessen Fühlen und Vollen kein einverständiges Verständnis aufzubringen ist. Empathie jedoch kennt und braucht allein einverständiges Verstehen im Sinne eines miteinander Warmwerdens.

      Werden in der Corona-Krise Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft auf die Probe gestellt, dann ist es Lebenskunst als die Kunst, Leben zu teilen, die ihre Existenz und ihr Können unter Beweis zu stellen hat. Lebenskunst ist die für das gelebte und zu lebende Leben erste und nächste aller Künste. Mütter mit ihrer Fürsorge für das Neugeborene stellen Lebenskunst und Empathie unter Beweis, wenn sie durch sie das Kind, das noch ohne entwickeltes Selbst ist, mit Selbstsein belehnen, um so eine echte Zweiheit in ihrer Wechselseitigkeit zu bilden. Sie fühlen im Kind ihr zweites Ich, sich selbst, wie Aristoteles sagt, als ihr anderes Ich (heteros ego).6 Lebenskunst gehört zur Natur des Menschen. Er entwickelt sie durch Erfahrung. Misslingt Lebensteilung, zerbrechen Intim- und Vertrauensverhältnisse, enden Kommunikations–, Arbeits- und Gütergemeinschaften, sind Freundschaft und Beistand aufgekündigt, dann gehört auch das zum menschlichen Leben, ja eben zu seiner lebenspraktischen Wahrheit. Das aber zerstört nicht notwendig die Kunst, Leben gelingend zu teilen, und mit ihr die Bejahung, als Mensch zu leben mit dem Willen, menschlich zu leben. Im Gegenteil, gerade die Corona-Krise entdeckt, wie stark in den Menschen diese Kunst, wenn nicht lebendig, so doch latent vorhanden ist. Ohne damit zu den inflationären Heldennominierungen beizutragen, muss man sagen, dass Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft ihre Probe bestanden haben. Das ist die eigene Erfahrung und gilt, wie zu hören und zu lesen war, für weite Nachbarschaften. Doch die Corona-Krise ist kein Deus ex machina, bewirkt keine allgemeine Wende zur Güte, zum Guten. Der Mensch wäre nicht Mensch, wenn er nicht auch Zeugnisse für krasse Gegenbeispiele erbrächte: neu auflebende Diskriminierung, Marginalisierung, Verachtung. Die Erkrankung an Covid-19 und die Sorge, sie nach Möglichkeit zu verhindern, und, ist sie gegeben, so gut wie möglich zu therapieren, verändert den Menschen nicht, verbessert ihn nicht. Die uralten Rufe zur Umkehr, offensichtlich zur Rückkehr ins Paradies oder in ein reines Geisterreich, werden – zum Glück –weithin im Leeren verhallen und das vielbemühte, in Paris bei einer Kunstbegegnung geprägte Wort »Du musst dein Leben ändern« dürfte kaum eine Chance haben, bei der Corona-Krise in ihrem heute so reich diskutierten Danach lebenspraktisch von Bedeutung zu sein. Die Bestimmung jedes Menschen aber, mit Menschen dazusein und für Menschen dazusein, in deren Erfüllung sich Mitmenschlichkeit als menschliches Gelingen feiert, hat durch die so reich bezeugte Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft der Menschen in der Coronakrise die den Menschen von früh an begleitenden Urteile über seine grundständige Schlechtigkeit einmal mehr widerlegt. Harte, einem Volksgott aus welcher Motivation auch immer angedichtete Urteile über den Menschen, die die geistig-geistliche Kultur Europas mitgeprägt haben, sind einmal mehr Makulatur geworden:

      Jede Verwirklichung der Planungen des menschlichen Herzens war durch und durch böse Tag für Tag.7

      dass des Menschen Sinnen gerichtet ist, mit allem Eifer Böses zu tun von Jugend an.8

WERDEN LEBENSFORMEN IN FRAGE GESTELLT?

      WER DEN STIMMEN DER ZEIT FOLGT, die das Wünschen und Wollen, Müssen und Können zur Sprache bringen, hört nur eines: Weitermachen! Die Fußballer wollen endlich wieder Fußball spielen, die Kabarettisten wünschen sich, wieder auf der Bühne zu stehen, die Gläubigen müssen wieder in die Kirche gehen, die Studenten auf die Universitäten, ja die Autobauer müssen endlich wieder Autos bauen, die Touristen endlich wieder auf Reisen gehen. All das, was gewünscht und gewollt ist, ja auch alles, was endlich wieder sein muss, könnte auch wirklich statthaben, wären nur erst die Beschränkunken aufgelockert, wenn nicht schon aufgehoben. Wer könnte und sollte sich schon in der Wahl und Wirklichkeit seiner Lebensform in Frage gestellt sehen – durch wen, durch was, wie und wozu?

      Ist die Lebensart vor dem Ausbruch der Corona-Krise in Frage gestellt?

      Die Antwort darauf kann derzeit nur eine vorläufige, aber doch auch vorwegnehmende sein, abhängig davon, ob die Krise in Kürze hinter uns liegt oder ob sie weit länger als erwartet fortbesteht. Die Frage zielt auf die Lebensart von demokratisch regierten Wohlstandsgesellschaften, in denen Verführung und Verführbarkeit zur ungehemmten Luxurierung des Lebens immer neu den Sieg über vernünftige Bedenken dagegen den Sieg davontragen. Aberwitzige Innovationen zur Steigerung der Annehmlichkeiten des alltäglichen Lebens (smart home), aberwitzige Anstrengungen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Verlängerung des Lebens, aberwitzige Zielsetzungen wie die des jeweils zweitgrößten Autobauers der Welt, erstmalig oder wieder der größte zu werden, werden verkündet, als ob sie Menschheitszielsetzungen gleichkämen, beherrschen die Gemüter im Einzelnen und im Gesamten. Die Vorhaben und Ausübungen sind durchweg selbstbezogen, ob im wirtschaftlichen oder im privaten Konsum. Man hat viel Stress und wenig Zeit, hat aber doch seinen Gewinn und seinen Genuss. Vor allem aber will man seinen Spaß haben, eine ganz eigene Form von Lebensfreude: quietschendes Vergnügen. Das ist in seiner Kürze keine Kapitalismuskritik und Wohlstandkritik, sondern nur ein Stück Bestandsaufnahme der gelebten Lebenswirklichkeit, um konkreter die Frage zu stellen, ob der Mensch durch die Art, wie er lebt, das meint in diesem Corona-Monat: wie er im Davor lebte, sich selbst in Frage stellt. Folgen wir der Jugend, die jüngst mit Umsicht und Einsicht die Gefahren des Klimawandels tatkräftig ernst zu nehmen begann, dann stellt der Mensch durch seine Lebensart in der Tat sich selbst in Frage und will es auch alsbald wieder tun. Oder könnte es doch wie durch ein Wunder sein, dass die Corona-Krise die Selbstbezogenheit der Lebensentwürfe und Lebenspraxis aufbricht, um die Teilung der Spaß- und Erlebniswelt, der Annehmlichkeiten und Genüsse um eine Welt auszuweiten zur Teilung der menschlichen Verantwortung für das Leben auf der Erde als seiner Wohnstätte?

      Warum sollte ausgerechnet eine weltweite Bedrohung von Leben und wirtschaftlicher Existenz durch ein und dieselbe Krankheit Menschen dazu bringen, über die Selbstbezogenheit ihrer Interessen, wie sie in einem Land der Erde in seiner Verfassung verankert ist, im »Pursuit of happiness«, hinauszugehen, um in Zeiten und Räumen zu denken, die die eigenen Lebensperspektiven unendlich überbieten? Die Autoindustrie hat im Mai 2020 ihre Forderungen nach Abwrackprämien für intakte Autos, damit neue »Benziner« und E-Autos gekauft werden, verstärkt. Eine abenteuerliche Verrücktheit: Autos auf Autofriedhöfen, die noch von A nach B und von X nach Y fahren können, auf Autofriedhöfen zu beerdigen, damit neue Autos gekauft werden. Das treibt wirklich die Innovation um der Innovation willen und den Konsum um des Konsums willen auf die Spitze. Doch hat die Autoindustrie nicht recht, handelt sie nicht im Interesse aller, aller nämlich, die als Verführte längst mit den Verführern paktieren? Die Lebensart ändern durch eine bewusste Verarmung des Lebens, durch bewusste Zerstörung eines funktionierenden fruchtbaren Verbunds von Politik und Wirtschaft – das überfordert ganz offensichtlich alle Seiten, die an der vor Corona gelebten Lebensart mit ihren Eigeninteressen Anteil nahmen. Systemrelevante Gruppierungen wie am Fußball Verdienende und am Fußball Spaß Habende, am Auto Verdienende und am Autofahren Spaß Habende, die das reine Weiter-wie-vorher mit Macht verlangen, im Verein mit den großflächig agierenden Verschwörungstheoretikern, die eine Existenz der Corona-Krise in Abrede stellen, sind ein starkes Indiz dafür, dass der Mensch seine Lebensart vor Corona nicht

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