Anna Karenina. Лев Толстой
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An sich lag nichts Ungewöhnliches und Befremdliches darin, daß jemand um halb zehn bei einem Freunde vorsprach, um Näheres über ein geplantes Diner zu hören, dabei aber nicht ins Zimmer kommen wollte; aber dennoch erschien es allen auffällig. Mehr noch als die anderen war Anna der Ansicht, daß dieses Verhalten auffällig und nicht passend sei.
22
Der Ball begann eben, als Kitty mit ihrer Mutter die große, von Licht überflutete Treppe hinanstieg, auf der blühende Topfgewächse und gepuderte Lakaien in roten Röcken aufgestellt waren. Aus den Sälen drang das dumpfe Geräusch der sich darin bewegenden Menschenmenge heraus, gleichmäßig wie das Summen in einem Bienenstocke, und während sie auf einem Treppenabsatz zwischen der dort aufgestellten Orangerie vor dem Spiegel die Frisuren und Kleider in Ordnung brachten, ertönten aus dem Tanzsaale die rhythmischen Geigenklänge des Orchesters, das den ersten Walzer anstimmte. Ein bejahrter Herr in Zivil, der sich vor einem anderen Spiegel die grauen Haare an den Schläfen zurechtgebürstet hatte und eine Wolke von Wohlgeruch um sich verbreitete, traf mit ihnen auf der Treppe zusammen und trat zur Seite, wobei er die ihm unbekannte Kitty mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. Ein bartloser Jüngling mit sehr tief ausgeschnittener Weste, einer der Salonmenschen, die der Fürst Schtscherbazki Windhunde zu nennen pflegte, brachte im Gehen seine weiße Krawatte in Ordnung, verbeugte sich vor ihnen, kehrte, nachdem er schon vorbeigelaufen war, wieder um und bat Kitty um eine Quadrille. Die erste Quadrille war schon an Wronski vergeben; sie mußte also diesem jungen Manne die zweite zuteilen. Ein Offizier, der gerade dabei war, sich den einen Handschuh zuzuknöpfen, trat an der Tür zur Seite und musterte, sich den Schnurrbart glattstreichend, beifällig die einem Röschen gleichende Kitty.
Obgleich die Toilette, die Frisur und alle die anderen Zurüstungen zum Balle Kitty viel Mühe und viel Überlegungen gekostet hatten, trat sie doch jetzt in ihrem kunstvollen Tüllkleide über einem rosa Unterkleide auf dem Balle so frei und ungezwungen auf, als ob all diese Rosetten, Spitzen und sonstigen Bestandteile der Toilette ihre und ihrer Hausgenossen eifrige Tätigkeit auch nicht für einen Augenblick in Anspruch genommen hätten, als ob sie in diesem Tüll, in diesen Spitzen, mit dieser hohen, von einer Rose nebst zwei Blättchen gekrönten Frisur geboren wäre.
Als beim Eintritt in den Saal die alte Fürstin ihr das Gürtelband, das sich umgeschlagen hatte, wieder in Ordnung bringen wollte, wehrte Kitty leise ab. Sie hatte die Empfindung, jetzt müsse alles an ihr ganz von selbst schön und anmutig sein, so daß keinerlei Verbesserung mehr nötig sei.
Kitty hatte heute einen ihrer glücklichen Tage. Nirgends saß das Kleid zu eng; nirgends war die Spitzenborte hinuntergerutscht; keine Rosette war zerdrückt oder abgerissen; die rosa Ballschuhe mit den hohen, geschweiften Absätzen drückten nicht, sondern waren eine Lust für die Füßchen. Die dichten, hellblonden Bandeaus saßen auf dem kleinen Köpfchen fest wie das eigene Haar. Die drei Knöpfe an jedem der langen Handschuhe, die eng anliegend die Hände umschlossen, ohne deren Form zu verändern, hatten sich alle zuknöpfen lassen; keiner war abgerissen. Das schwarze Samtband, an dem ein Medaillon hing, umgab ihren Hals besonders anmutig. Dieses Samtband war geradezu entzückend, und als Kitty zu Hause ihren Hals im Spiegel gesehen hatte, hatte sie ein Gefühl gehabt, wie wenn dieses Samtband reden könnte. Und wenn bei allen übrigen Bestandteilen ihrer Toilette vielleicht noch ein Zweifel an deren höchster Vollendung möglich war, das Samtband war einfach entzückend. Auch hier auf dem Balle lächelte Kitty, als sie es im Spiegel erblickte. In den entblößten Schultern und Armen empfand Kitty eine marmorartige Kühle, ein Gefühl, das sie ganz besonders gern hatte. Ihre Augen leuchteten, und die roten Lippen konnten im Bewußtsein, wie reizend sie waren, ein Lächeln nicht unterdrücken.
Kaum hatte sie den Saal betreten und sich zu der Schar der Damen begeben, die, einem bunten Durcheinander von Tüll, Bändern, Spitzen und Blumen gleichend, auf Aufforderungen zum Tanze warteten (Kitty hatte in diesem Schwarm nie lange zu stehen brauchen), als sie auch schon zum Walzer aufgefordert wurde, und zwar von einem Kavalier ersten Ranges, dem tonangebenden Kavalier auf dem Gebiete des Ball-Lebens, dem berühmten Ballordner und Zeremonienmeister Jegor Korsunski, einem hübschen, stattlichen, verheirateten Manne. Er hatte soeben die Gräfin Bonina verlassen, mit der er den ersten Walzer getanzt hatte, und musterte »seine Truppen«, das heißt die zum Tanz angetretenen Paare, da erblickte er die eintretende Kitty, eilte mit jenem besonderen, nur den Ballordnern eigenen, ungezwungenen, wiegenden Gange auf sie zu, verbeugte sich und hob, ohne auch nur zu fragen, ob es ihr recht sei, den Arm, um ihn um ihre schlanke Taille zu legen. Sie blickte sich um, wem sie ihren Fächer übergeben könnte, und die Hausfrau nahm ihn ihr, freundlich lächelnd, ab.
»Wie schön, daß Sie so pünktlich gekommen sind«, sagte er, während er ihre Hüfte umfaßte. »Dieses Zuspätkommen ist auch eine zu arge Unsitte.«
Sie legte den gebogenen linken Arm auf seine Schulter, und die kleinen Füßchen in den rosa Schuhen bewegten sich hurtig, leicht und gleichmäßig nach dem Takte der Musik auf dem glatten Parkett.
»Es ist geradezu eine Erholung, mit Ihnen Walzer zu tanzen«, sagte er nach den ersten ruhigen Walzerschritten. »Eine ganz entzückende Leichtigkeit und précision«, – er sagte ihr dasselbe, was er fast allen Damen seiner Bekanntschaft sagte.
Sie lächelte über sein Lob und fuhr fort, über seine Schulter hinweg sich im Saale umzusehen. Sie war kein Neuling, für den auf einem Balle alle Gesichter zu einem einzigen zauberhaften Gesamteindrucke zusammenfließen, aber sie war auch keine jener jungen Damen, die von ihren Müttern auf alle Bälle geschleppt werden und dort alle Gesichter schon so genau kennen, daß sie sie gar nicht mehr sehen mögen, sondern sie nahm eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Gegensätzen ein: sie war wohl erregt, hatte sich aber dabei doch so weit in der Gewalt, daß sie Beobachtungen anstellen konnte. In der linken Ecke des Saales hatte sich, wie sie sah, die Creme der Gesellschaft aufgestellt. Da war die schöne, fast bis zur Unmöglichkeit dekolletierte Liddy, die Frau des Herrn Korsunski; da war die Hausfrau; da saß mit seiner weithin leuchtenden Glatze Herr Kriwin, der sich immer dort aufhielt, wo sich die Spitzen der Gesellschaft befanden; dorthin richteten die jungen Herren ihre Blicke, ohne daß sie doch gewagt hätten, hinzugehen; und dort fand sie auch mit den Augen ihren Schwager Stiwa heraus, und dann erblickte sie Annas schönen Kopf und entzückende Gestalt in einem schwarzen Samtkleide. Auch ›er‹ war dort. Kitty hatte ihn seit dem Abende, da sie Ljewins Antrag abgelehnt hatte, nicht wiedergesehen. Mit ihren scharfen Augen erkannte sie ihn sofort und bemerkte sogar, daß er zu ihr herüberschaute.
»Nun, noch eine Runde? Sie sind doch nicht ermüdet?« fragte Korsunski, der ein wenig außer Atem gekommen war.
»Nein, ich danke.«
»Wohin darf ich Sie führen?«
»Ich glaube, dort ist Frau Karenina. Führen Sie mich, bitte, zu ihr!« – »Wie Sie befehlen.«
Und Korsunski walzte mit kürzer abgemessenen Schritten gerade auf die Gruppe in der linken Ecke des Saales zu, wobei er fortwährend sagte: ›Pardon, mes dames, pardon, pardon, mes dames!‹ und in diesem Meere von Spitzen, Tüll und Bändern so geschickt kreuzte, daß er auch nicht an einem Flitterchen anhakte; dann schwenkte er seine Dame in kurzer Wendung herum, so daß ihre schlanken Beinchen in den durchbrochenen Strümpfen sichtbar wurden und ihre Schleppe sich fächerförmig ausbreitete und Kriwins Knie bedeckte. Korsunski verbeugte sich, drückte die Brust in dem weiten Westenausschnitt nach vorn heraus und reichte Kitty den Arm, um sie zu Anna Arkadjewna zu führen. Errötend nahm Kitty ihre Schleppe von Kriwins Knien herunter und blickte dann, ein wenig schwindlig, umher, um Anna herauszufinden. Anna war nicht in Lila, wie Kitty das für das einzig Gegebene gehalten hatte, sondern trug ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Samtkleid, das ihre vollen, wie aus altem Elfenbein gedrechselten Schultern, die Büste und die rundlichen Arme mit den feinen, schmalen