Autochthone Minderheiten und Migrant*innen. Sarah Oberbichler
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Um zu erforschen, wie Migrant*innen in einem derartigen Setting medial wahrgenommen werden, sind folgende Fragestellungen zentral:
(1) Welchen Stellenwert nehmen die Migrant*innen und die dadurch gewachsenen neuen Minderheiten in Südtirol, als einem von Minderheiten bewohnten Gebiet ein? Welcher Raum wird ihnen zugesprochen? Wie werden sie von deutsch- und italienischsprachiger Seite wahrgenommen? Wie werden sie thematisiert, politisiert, instrumentalisiert?
(2) Ist ein differenzierter Diskurs vorhanden und wenn ja, wie sieht dieser aus? Inwiefern wird in den Berichterstattungen eine Bedrohung des besonderen Südtirol-Modells durch die Zuwanderung ausländischer Bürger*innen gesehen und inwieweit wird damit das etablierte Arrangement durcheinandergebracht?
(3) Ab wann wird Migration ein öffentlich diskutiertes Thema und in welchem Kontext? Welche politischen und historischen Ereignisse (regional, national, international) beeinflussen die Wanderungsbewegungen?
(4) Wie wirkt sich die Zuwanderung auf die ethnische Debatte in Südtirol aus? Wie wirken sich die historischen Konflikte bzw. deren immer wieder aktualisierte Erinnerung (Italianisierung, Majorisierung) auf die Zuwanderung aus?
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, vorhandene Defizite in der Forschung auszugleichen, zentrale Argumentationsstrategien der Südtiroler Tageszeitungen zum Thema Migration offenzulegen sowie einen historischen Zugang zu schaffen. Zuwanderung ist aus wirtschaftlicher Sicht in Südtirol unverzichtbar geworden, jedoch ist das Land nach wie vor von einer notwendigen Integration der neuen Minderheit weit entfernt, politisch aber vor allem auch kulturell. In den Südtiroler Medien wird die wachsende Fremdenfeindlichkeit Jahr für Jahr spürbarer, wobei es sprachgruppenspezifische Unterschiede bei der Wahrnehmung gibt. Zu analysieren, wie es zur derzeitigen Situation kam, liegt im Hauptinteresse des vorliegenden Projektes.
Basierend auf dem Vergleich der Tageszeitungen Alto Adige und Dolomiten und unter Berücksichtigung des auf Trennung ausgerichteten politischen Systems ergeben sich folgende zwei Thesen:
Erstens wird argumentiert, dass sich das spezielle, von ethnischen Diskursen dominierte politische und soziale System in Südtirol auf die Wahrnehmung von Migration auswirkt, und zwar in beiden bzw. drei autochthonen Minderheiten unterschiedlich: Migrant*innen in Südtirol müssen sich nicht nur in eine fremde Gesellschaft, sondern auch in das komplexe System von Mehrsprachigkeit und Minderheitenschutz integrieren, welches Migrant*innen, also neue Minderheiten, nicht kennt. So leben in der Provinz Bozen neben den neuen Minderheiten auch die alten, autochthonen Minderheiten – die Deutschsprachigen, die mit ihr verbundenen Ladinischsprachigen und die Italienischsprachigen – seit den 1920er-Jahren in Parallelgesellschaften nebeneinander. Geregelt wird dieses Nebeneinander durch ein institutionelles System, das zum Schutz der Sprache und der Kultur der Minderheiten eine weitreichende Trennung im Bereich der öffentlichen Stellen, der Sprachrechte, der Bildung, der politischen Repräsentation und teilweise auch der Sozialmittel vorsieht. Um diesen Schutz zu gewährleisten, muss festgestellt werden, wer zur jeweiligen Sprachgruppe gehört. Aus diesem Grund wird alle zehn Jahre die Sprachgruppenzugehörigkeit erhoben, die den Umfang der einzelnen Gruppen ermittelt. Mit der Erklärung wird die Zugehörigkeit zu einer der drei offiziellen Sprachgruppen – italienisch, deutsch und ladinisch – in Südtirol ermittelt und somit deren Stärke erhoben, aufgrund derer öffentliche Stellen und Sozialmittel verteilt werden.12
Bis 2015 konnten Migrant*innen erst mit dem Erlangen der italienischen Staatsbürgerschaft die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung ablegen, seitdem ist aber der Zugang auch für Menschen mit ausländischem Pass geöffnet worden.13 Auch sie müssen seitdem mit dieser Erklärung die Zugehörigkeit oder, im Falle der neuen Bürger*innen, die Zuordnung zu einer der drei ethnischen Gruppen14 bekannt geben. Die Ergebnisse der Zugehörigkeitserklärung bilden die Basis für den ethnischen Proporz. Dieser räumt anschließend den drei Sprachgruppen das Recht ein, in Relation zu ihrer zahlenmäßigen Stärke berücksichtigt zu werden. Aus diesem Grund ist der Proporz neben dem Zweisprachigkeitssystem in allen öffentlichen Bereichen ein wichtiger Pfeiler des Autonomiestatus in Südtirol. Migrant*innen bringen durch ihre aktive Entscheidung für eine der beiden bzw. drei Gruppen das historisch institutionalisierte System ins Ungleichgewicht15: Durch die Zuordnung zu einer der drei Gruppen können sie einen – wenn auch geringen – Einfluss auf das bisher dagewesene Gleichgewicht der Sprachgruppen und somit den Proporz nehmen. Die potentielle Verschiebung der Proporzaufteilung wird auf deutschsprachiger Seite durchaus mit Sorge betrachtet. Diese Sorge begünstigt nicht zuletzt zum Teil konträre Haltungen: Zum einen eine abwehrende Haltung gegenüber Menschen aus dem Ausland, zum anderen ein Wunsch, Migrantinnen und Migranten bewusst in die eigene ethnische Gruppe zu integrieren. Integration wird dadurch zu einem Mittel im Kampf um den Erhalt der eigenen Sprachgruppe und Zugewanderte werden zum politischen Subjekt, um das im Sinne der Sprachgruppen gekämpft wird: Während die italienische Sprachgruppe seit Jahren einen Rückgang der italienischen Gruppe durch die Integration von Migrant*innen zu kompensieren sucht, hat neuerdings auch die deutsche Gruppe die Einwandernden als potentielle Wählerschicht entdeckt.
Zweitens wird angenommen, dass sich die Zuwanderung in Südtirol mehr negativ als positiv auf das Zusammenleben der drei Sprachgruppen in Südtirol ausgewirkt hat und dass es nur bedingt zu einem Wir-Gefühl und Zusammenrücken der drei autochthonen Bevölkerungsgruppen gekommen ist.
Der italienische Politiker Renzo Gubert hatte 1991 einen Artikel im Tiroler Almanach16 veröffentlicht, bei dem er drei Szenarien aufzeigte, wie sich der Zuzug „weit entfernt lebender Völker“17 auf das Zusammenleben von „bodenständigen Gruppen“ auswirken kann:
„a) […] die Ankunft von Gruppen mit einer betont unterschiedlichen Identität wird zur Folge haben, daß die Wahrnehmung der Ähnlichkeit unter den bodenständigen Gruppen verstärkt und die der Unterschiedlichkeit abgeschwächt wird;
b) […] die bodenständigen Gruppen neigen dazu, die Wahrnehmung der Gemeinschaftlichkeit der Interessen (die an das gemeinsame Land gebunden sind) eher als die Unterschiedlichkeit zu verstärken […]
c) Vergrößerung der Unterschiedlichkeit innerhalb der bodenständigen Gruppen, allgemeine Verringerung des internen Zusammenhaltes durch die Tatsache, daß gegenüber der neuen Situation eine Stellung eingenommen werden muß […].“18
Renzo Guberts Überlegungen und Fragen, wie sich Zuwanderung auf das Zusammenleben von unterschiedlichen bodenständigen Gruppen auswirken könnte, hatten durchaus seine Berechtigung. Mehr als Zukunftsprojektionen waren 1991 angesichts vernachlässigbarer Zuwanderung aber nicht möglich. 25 Jahre später sind wir durchaus in der Lage, mögliche Antworten auf derartige Überlegungen zu finden. Die vorliegende Forschungsarbeit unternimmt einen ersten Schritt in diese Richtung, rekonstruiert die Migrationsgeschichte seit 1990 und legt Diskurse über Migration offen.
Empirisch verifiziert und überprüft