Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke
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»Die Bücher sind leer«, schrie der Graf mit einer wütenden Gebärde nach den Wänden hin, »das Blut, darauf kommt es an, da muß man drin lesen können. Er hatte wunderliche Geschichten drin und merkwürdige Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da war immer was beschrieben; keine Seite in seinem Blut war überschlagen worden. Und wenn er sich einschloß von Zeit zu Zeit und allein drin blätterte, dann kam er zu den Stellen über das Goldmachen und über die Steine und über die Farben. Warum soll das nicht darin gestanden haben? es steht sicher irgendwo.«
»Er hätte gut mit einer Wahrheit leben können, dieser Mensch, wenn er allein gewesen wäre. Aber es war keine Kleinigkeit, allein zu sein mit einer solchen. Und er war nicht so geschmacklos, die Leute einzuladen, daß sie ihn bei seiner Wahrheit besuchten; die sollte nicht ins Gerede kommen: dazu war er viel zu sehr Orientale. ›Adieu, Madame‹, sagte er ihr wahrheitsgemäß, ›auf ein anderes Mal. Vielleicht ist man in tausend Jahren etwas kräftiger und ungestörter. Ihre Schönheit ist ja doch erst im Werden, Madame‹, sagte er, und das war keine bloße Höflichkeit. Damit ging er fort und legte draußen für die Leute seinen Tierpark an, eine Art Jardin d’Acclimatation für die größeren Arten von Lügen, die man bei uns noch nie gesehen hatte, und ein Palmenhaus von Übertreibungen und eine kleine, gepflegte Figuerie falscher Geheimnisse. Da kamen sie von allen Seiten, und er ging herum mit Diamantschnallen an den Schuhen und war ganz für seine Gäste da.«
»Eine oberflächliche Existenz: wie? Im Grunde war’s doch eine Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat sich ziemlich dabei konserviert.«
Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf Abelone ein, die er vergessen hatte. Er ging wie rasend auf und ab und warf herausfordernde Blicke auf Sten, als sollte Sten in einem gewissen Augenblicke sich in den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten verwandelte sich noch nicht.
»Man müßte ihn sehen«, fuhr Graf Brahe versessen fort. »Es gab eine Zeit, wo er durchaus sichtbar war, obwohl in manchen Städten die Briefe, die er empfing, an niemanden gerichtet waren: Es stand nur der Ort darauf, sonst nichts. Aber ich hab ihn gesehen.«
»Er war nicht schön.« Der Graf lachte eigentümlich eilig. »Auch nicht, was die Leute bedeutend nennen oder vornehm: es waren immer Vornehmere neben ihm. Er war reich: aber das war bei ihm nur wie ein Einfall, daran konnte man sich nicht halten. Er war gut gewachsen, obzwar andere hielten sich besser. Ich konnte damals natürlich nicht beurteilen, ob er geistreich war und das und dies, worauf Wert gelegt wird –: aber er war.«
Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung, als stellte er etwas in den Raum hinein, was blieb.
In diesem Moment gewahrte er Abelone.
»Siehst du ihn?« herrschte er sie an. Und plötzlich ergriff er den einen silbernen Armleuchter und leuchtete ihr blendend ins Gesicht.
Abelone erinnerte sich, daß sie ihn gesehen habe.
In den nächsten Tagen wurde Abelone regelmäßig gerufen, und das Diktieren ging nach diesem Zwischenfall viel ruhiger weiter. Der Graf stellte nach allerhand Papieren seine frühesten Erinnerungen an den Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater eine gewisse Rolle spielte. Abelone war jetzt so gut auf die Besonderheiten ihrer Arbeit eingestellt, daß, wer die beiden sah, ihre zweckdienliche Gemeinsamkeit leicht für ein wirkliches Vertrautsein nehmen konnte.
Einmal, als Abelone sich schon zurückziehen wollte, trat der alte Herr auf sie zu, und es war, als hielte er die Hände mit einer Überraschung hinter sich: »Morgen schreiben wir von Julie Reventlow«, sagte er und kostete seine Worte. »Das war eine Heilige.«
Wahrscheinlich sah Abelone ihn ungläubig an.
»Ja, ja, das gibt es alles noch«, bestand er in befehlendem Tone, »es gibt alles, Komtesse Abel.«
Er nahm Abelonens Hände und schlug sie auf wie ein Buch.
»Sie hatte die Stigmata«, sagte er, »hier und hier.« Und er tippte mit seinem kalten Finger hart und kurz in ihre beiden Handflächen.
Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird sich zeigen, dachte sie; sie war recht ungeduldig, von der Heiligen zu hören, die ihr Vater noch gesehen hatte. Aber sie wurde nicht mehr geholt, nicht am nächsten Morgen und auch später nicht. –
»Von der Gräfin Reventlow ist ja dann oft bei euch gesprochen worden«, schloß Abelone kurz, als ich sie bat, mehr zu erzählen. Sie sah müde aus; auch behauptete sie, das meiste wieder vergessen zu haben. »Aber die Stellen fühl ich noch manchmal«, lächelte sie und konnte es nicht lassen und schaute beinah neugierig in ihre leeren Hände.
Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden. Ulsgaard war nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater starb in der Stadt, in einer Etagenwohnung, die mir feindselig und befremdlich schien. Ich war damals schon im Ausland und kam zu spät.
Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher Kerzen. Der Geruch der Blumen war unverständlich wie viele gleichzeitige Stimmen. Sein schönes Gesicht, darin die Augen geschlossen worden waren, hatte einen Ausdruck höflichen Erinnerns. Er war eingekleidet in die Jägermeistersuniform, aber aus irgendeinem Grunde hatte man das weiße Band aufgelegt, statt des blauen. Die Hände waren nicht gefaltet, sie lagen schräg übereinander und sahen nachgemacht und sinnlos aus. Man hatte mir rasch erzählt, daß er viel gelitten habe: Es war nichts davon zu sehen. Seine Züge waren aufgeräumt wie die Möbel in einem Fremdenzimmer, aus dem jemand abgereist war. Mir war zumute, als hätte ich ihn schon öfter tot gesehen: so gut kannte ich das alles.
Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme Art. Neu war dieses bedrückende Zimmer, das Fenster gegenüber hatte, wahrscheinlich die Fenster anderer Leute. Neu war es, daß Sieversen von Zeit zu Zeit hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt geworden. Dann sollte ich frühstücken. Mehrmals wurde mir das Frühstück gemeldet. Mir lag durchaus nichts daran, zu frühstücken an diesem Tage. Ich merkte nicht, daß man mich forthaben wollte; schließlich, da ich nicht ging, brachte Sieversen es irgendwie heraus, daß die Ärzte da wären. Ich begriff nicht, wozu. Es wäre da noch etwas zu tun, sagte Sieversen und sah mich mit ihren roten Augen angestrengt an. Dann traten, etwas überstürzt, zwei Herren herein: das waren die Ärzte. Der vordere senkte seinen Kopf mit einem Ruck, als hätte er Hörner und wollte stoßen, um uns über seine Gläser fort anzusehen: erst Sieversen, dann mich.
Er verbeugte sich mit studentischer Förmlichkeit. »Der Herr Jägermeister hatte noch einen Wunsch«, sagte er genauso, wie er eingetreten war; man hatte wieder das Gefühl, daß er sich überstürzte. Ich nötigte ihn irgendwie, seinen Blick durch seine Gläser zu richten. Sein Kollege war ein voller, dünnschaliger blonder Mensch; es fiel mir ein, daß man ihn leicht zum Erröten bringen könnte. Darüber entstand eine Pause. Es war seltsam, daß der Jägermeister jetzt