Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
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Читать онлайн книгу Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May страница 42
Drin kam ihr auch die Försterin entgegen, um ihr die Hand zu geben. Wie oft war sie in diesem Hause, in diesem Stübchen gewesen, und welches Glück hatte – aber zu solchen Reflexionen gab es jetzt keine Zeit! Sie wendete sich an die beiden Alten und sagte:
»Papa und Mama Brandt, ich komme, um Ihnen eine Nachricht zu bringen, welche zugleich gut und auch schlimm ist. Nämlich Gustav ist entflohen, und man wird kommen, ihn hier zu suchen!«
Das Ehepaar that gar nicht so erschrocken, wie sie es erwartet hatte. Der Förster antwortete einfach:
»Sie mögen nur immer kommen!«
»So haben Sie wohl gar keine Angst? Ich bin erst vor Schreck halb todt gewesen, und dann aber sogleich herbei geeilt, um Sie zu warnen, damit er nicht hier ergriffen wird!«
»Mein Kind, wie können Sie erschrecken! Sie haben ihn ja für schuldig gehalten, und ein Schuldiger verdient kein Mitleid!«
Da warf sie sich der Försterin um den Hals und schluchzte:
»Vergieb mir! Oh, ich war betört; ich war bös, sehr bös! Aber ich sehe ein, daß ich unrecht gehandelt habe. Ich habe eingesehen, daß er unschuldig ist und daß ich ihn in das Verderben stürzte.«
»Nun, so schlimm ist es denn doch wohl nicht!«
»O, der König sagte es auch!«
»Er wird wohl seine Absicht dabei gehabt haben. Sicher ist, daß der Verdacht auch ohne Sie auf Gustav gefallen wäre.«
»O, ich war so froh, als ich hörte, daß es ihm gelungen ist, zu entkommen. Er wird sicherlich zuerst die Eltern aufsuchen, und dann, ja dann ist er verloren!«
»Das wollen wir abwarten! Aber was ist das in Ihrer Hand?«
»Ich begegnete einem Reiter, einem Fremden, welcher mich bat, dieses Couvert dem Förster von Helfenstein zu geben. Der Mensch wagte es, mir dreimal die Hand zu küssen!«
Die beiden Leute lächelten einander an. Der Förster nahm das Couvert, öffnete es, warf einen Blick auf die Karte und gab sie ihr dann zurück.
»Lesen Sie selbst!« sagte er.
Sie las. Auf ihrem Gesichte wechselte die Röthe mit der Blässe. Sie umarmte die Försterin abermals und rief jubelnd:
»Er war es, er? Oh, so werden sie ihn nicht erkennen! Er wird entkommen. Und er hat mir verziehen, verziehen, verziehen!«
Nun ging es an ein Erklären. Auf der Karte hatte gestanden:
»Verzeiht ihr so wie ich ihr verzeihe! Sie war und bleibt mein einziger, mein lieber, süßer Sonnenstrahl!«
Zweites Kapitel
Das Opfer des Wüstlings
Der gewaltigste der Dichter und Schriftsteller ist – – das Leben. Es ist weder von Shakespeare, Milton und Scott, von Dante, Tasso und Ariost, noch von Göthe, Schiller und Anderen erreicht oder gar übertroffen worden. Das Leben schreibt mir diamantenem Griffel; seine Schrift ist unvergänglich, seine Logik unbestechlich, seine Charakteristik von unveränderbarer Treue, seine Schilderung hinreißend und von herzergreifender Wahrheit. Was es darstellt, ist wirklich geschehen; die Personen, welche es handelnd aufführt, haben wirklich gelebt oder leben noch. Es giebt keinen Redacteur, keinen Kritiker, keine Censur, überhaupt keine irdische Feder, welcher es erlaubt wäre, von dem Manuscripte der wirklichen Thatsachen auch nur einen Buchstaben zu streichen.
Das Leben arbeitet in unendlicher Rastlosigkeit, und nur, wenn der Blick des Sterblichen, von der Colossalität des Allgemeinen überwältigt, sich auf das Besondere und Einzelne richtet, kann es zuweilen scheinen, als ob die Geschichtsschreiberin der Welt-und Erdenentwicklung einmal die Feder ermüdet aus der Hand gelegt habe. Pausen scheinen eingetreten und Gedankenstriche gemacht worden zu sein. Personen sind verschwunden und Ereignisse in Stillstand versunken. –
Dem ist aber nicht so! Ueber eine kleine Weile – und solche kurze Pausen können im Zeitengange Jahrzehnte und Jahrhunderte bedeuten – entwickeln sich aus den scheinbaren Gedankenstrichen Buchstaben und Worte, welche in deutlicher Lesbarkeit beweisen, daß im Uebergange des Geschehenen zum Gegenwärtigen und Zukünftigen unmöglich eine auch nur sekundenlange Pause eintreten kann.
Die Gegenwart schlägt ihre Wurzel stets in die Vergangenheit. Wer die Erstere begreifen will, muß unbedingt die Letztere kennen. – So ist es auch bei der ebenso großartigen wie räthselhaften Erscheinung, welche der »Fürst des Elendes« bietet. Sie kann nur Dem erklärlich sein, welchem die Erlaubniß zu Theil wird, einen Blick in die Vergangenheit dieses außerordentlichen Characters zu thun. Dieser Blick ist durch das bisher Erzählte ermöglicht worden, und nun kann das rastlos schaffende Leben seinen Griffel zur Fortsetzung auf die eherne Tafel der Geschichte richten.
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Ungefähr zwanzig Jahre waren vergangen. Am heutigen Tage, an welchem man den letzten November schrieb, war ein tiefer Schnee gefallen; dann hatte sich das Wetter aufgeklärt, und jetzt, am Abende, gab es eine Kälte, welche die Glieder zu durchschneiden schien.
Es war der erste Tag des Weihnachtsmarktes. Die Läden waren doppelt hell erleuchtet als sonst; auf den Straßen und Plätzen standen zahlreiche Buden, in welchen Alles zu haben war, worauf sich die weihnachtlichen Wünsche nur immer erstrecken konnten. Die Käufer, reich oder armselig bekleidet, durchstampften den Schnee, um sich die Waaren anzusehen, und die Verkäufer gaben sich die erdenklichste Mühe, ihre Auslagen an den Mann zu bringen.
Eigentlich hätte man sagen können, daß Reich und Arm geschieden sei. Es gab Plätze, wo nur der von dem Glück Bevorzugte kaufen konnte, während in den abgelegeneren und düstereren Winkeln und Gassen Diejenigen sich zurückgezogen hatten, deren Waaren mehr für die Mittel Derjenigen geeignet waren, welche mit den Sorgen des Lebens zu kämpfen haben und doch den Ihrigen gern eine Festfreude machen wollen.
In einem dieser Winkel saß eine Obsthökerin vor ihrem Stande, welcher durch zwei Laternen erleuchtet war. Sie saß auf einem Schemel, unter welchem ein Becken mit glühenden Holzkohlen stand. Ihren weiten, dicken, altmodischen Mantel hatte sie so um sich geschlagen, daß er rund um den Schemel herum den Boden erreichte. Auf diese Weise ging von der Wärme der Kohlengluth gar nichts verloren.
Ihr zur Rechten stand ein kleines, wackeliges Tischchen, auf dem ein Häufchen aus Binsenmark geflochtene Vogel- oder vielmehr Taubengestalten zu sehen war. Man sieht solche Figuren oft an den Zimmerdecken armer Leute hängen und nennt sie ›heilige Geister‹.
Ihr zur Linken war der Schnee in einem kleinem Vierecke gleich mit den Händen entfernt worden, und auf diesem Fleckchen Erde stand ein Dutzend kleiner Holzfiguren, roh mit der Hand geschnitzt, mit Wasserfarben bemalt und mit beweglichen Armen und Beinen versehen.
Vor dem Tischchen zur Rechten stand ein Knabe, welcher ungefähr dreizehn Jahre alt sein mochte. Er strampelte mit den Beinen und schlug die Arme übereinander, denn es fror ihn gewaltig.
Vor den Holzfiguren kauerte ein vielleicht elfjähriges Mädchen.