Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
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Читать онлайн книгу Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May страница 49
Da trat Herr Seidelmann ein. Er grüßte nach seiner Weise und sagte dann im Tone des Beileides:
»Ich begegnete einem Polizisten, welcher bei Euch gewesen ist. Was ist denn geschehen?«
Der Holzhacker erzählte ihm Alles.
»Das habt Ihr davon,« meinte der Fromme, »daß Ihr den Rath Eures Seelsorgers verachtet. Hättet Ihr mir den Knaben überlassen. Der Künstler, welcher ihn wieder zu einem Künstler erziehen wollte, hätte Euch zehn Thaler geschenkt, und Ihr hättet nicht nöthig gehabt, das Mädchen auf den Markt zu schicken.«
»Zehn Thaler?« fragte die Waschfrau. »Höre, Mann!«
»Zehn Thaler?« wiederholte der Holzhacker. »Davon haben Sie uns gar nichts gesagt!«
»So habt Ihr es überhört. Nun kommt morgen die Polizeistrafe, die Ihr zahlen müßt, wenn Ihr nicht sofort ausgepfändet werden wollt, der Miethzins dazu – hm!«
Er griff in die Tasche, zog eine Zuckerdüte hervor und gab sie dem hübschen, kräftig gebauten Knaben, welcher wohl vier Jahre alt sein mochte.
»Das ist von dem Onkel, der Dich so lieb hat!« sagte er dabei. »Möchtest Du einmal zu ihm kommen?«
»Ja,« antwortete natürlich der Junge, indem er ein Stück des Inhaltes in den Mund schob.
»Nun, was sagt Ihr dazu?«
Die Eltern blickten einander fragend an. Kein Brod, kein Holz, keine Kohlen, morgen Hauszins und Polizeistrafe! Das Kind zu einem großen Künstler, bei dem es jedenfalls besser aufgehoben war als bei ihnen! Und dagegen zehn blanke Thaler!
»Was denkst Du, Frau?« fragte der Mann.
»Mach', was Du willst!«
»Herr Seidelmann, wann würden wir das Geld bekommen?«
»Sogleich!«
»Wann wird der Junge geholt?«
»Noch heute Abend. Ich schicke mein Dienstmädchen her.«
»Na, dann in Gottes Namen. Der Junge ist uns zwar an's Herz gewachsen, aber die Noth ist groß; er wird nicht länger zu hungern brauchen, und ich bin ja überzeugt, daß Sie uns nur einen Rath geben, der gut ist. Es kann zu seinem Glücke sein, und unser Kind bleibt er doch!«
»Das ist sehr verständig von Euch gedacht, und ich danke Gott, daß er Euer Herz zu diesem Entschlusse gelenkt hat. Schreiben können Sie doch, Schubert?«
»Leidlich.«
»Das ist gut. Ich werde dem Mädchen einen Revers mitgeben, welchen Sie unterschreiben müssen. Das Kind muß doch eine Legimitation haben. Hier ist das Geld.«
Er bezahlte die zehn Thaler und ging, von den Segenswünschen der Eltern begleitet. Auf der Gasse angekommen, eilte er sogleich zur nächsten Droschkenstation und fuhr – nach dem Circus, dessen Besitzer zufälliger Weise auch sofort zu sprechen war.
»Nun,« fragte dieser. »Haben Sie es den Leuten vorgestellt, Herr Seidelmann?«
»Ja, aber sie bedenken sich noch immer.«
»Was giebt es da zu bedenken! Ich zahle die sechzig Thaler, und sie geben mir dafür den Jungen!«
»Hm! Wenn Sie stets hier blieben, damit die Eltern das Kind zuweilen sehen könnten.«
»Das geht nicht; ich besuche alle Haupt- und größeren Städte. Und übrigens ist es am Besten, man hat die Eltern nicht in der Nähe. Aus den Augen, aus dem Sinn!«
»Da glaube ich nicht, daß sie darauf eingehen.«
»Das wäre mir fatal! Ich habe noch nie so einen prächtigen Jungen gesehen! Er ist geradezu zum Kunstreiter geboren. Ich brauche unbedingt so einen Knaben. Ein Junge, der Etwas leistet, zieht die Leute herbei. Leider sind mir in fünf Jahren drei solche Jungens verunglückt. Der Eine brach das Genick, und die beiden Anderen stürzten und starben etwas später.«
»Das dürften diese braven Leute nicht wissen. Uebrigens ist ihnen auch die Summe, welche Sie bieten, zu niedrig.«
»Sechzig Thaler? Wieviel verlangen sie denn?«
»Gerade das Doppelte.«
»Das ist viel, sehr viel! Wie nun, wenn mir der Junge gleich beim ersten Male den Hals bricht?«
»Das steht doch nicht zu erwarten. Diese Leute stecken in Noth, sonst würden sie den Jungen gar nicht hergeben, selbst dann nicht, wenn ich als Armenpfleger ihnen zureden wollte. Geben sie ihn her, so dann nur gegen eine Summe, welche genügend ist, ihre Noth wenigstens auf einige Zeit zu lindern.«
»Aber gleich das Doppelte!«
»Ich kann weder den Eltern, noch Ihnen zu- oder abraten. Ich habe meinen Auftrag ausgerichtet. Sie nehmen ihn nicht an, und so ist es wohl Gottes Wille, daß der Knabe bei den Eltern bleibt.«
Er machte Miene, zu gehen; der Direktor ließ ihn aber nicht fort.
»Wären denn nicht hundert Thaler genügend?« fragte er.
»Es sind gerade hundertzwanzig, welche die Eltern brauchen!«
»Hm! Der Junge ist bildhübsch! Ich kann mir Etwas mit ihm verdienen!«
»Das ist sicher! Bedenken Sie, daß er gezwungen ist, für Sie zu arbeiten, bis er mündig ist.«
»Das habe ich auch zu rechnen. Na, Herr Seidelmann, so mag es sein! Ich zahle die hundertzwanzig Thaler!«
»Wann?«
»Das kommt darauf an, wenn ich den Jungen erhalte.«
»Ich werde mein Möglichstes tun, und denke, daß ich ihn Ihnen noch heute schicken kann, und zwar mit den nöthigen Papieren.«
»So gebe ich jetzt sechzig und die anderen sechzig dem Boten, der ihn bringt.«
»Gut! Abgemacht! Diesen Knaben vom Hungern erlöst, ist ein Werk, dessen sich die Engel freuen werden!« –
Vorhin, als Herr Seidelmann so schnell von Bertrams fortgegangen war, hatten die beiden Geschwister einander eine Weile stumm angesehen. Dann hatte Marie ihm die Hand hingehalten und gesagt:
»Laß ihn, lieber Robert! Dieser Heuchler ist nicht werth, daß wir nur an ihn denken, viel weniger aber uns über ihn ärgern!«
»So denkst Du als Mädchen! Er hat uns fürchterlich beleidigt!«
»Vergiß das für heute! Komm, setze Dich, wir wollen weiter arbeiten!«
Er antwortete nicht. Es stürmte in ihm. Um sich zu beruhigen, schritt er einige Male im Zimmer auf und ab. Dann, als er, sich die Hände reibend, wieder zur Feder greifen wollte, zupfte ihn jemand am Rockschoße. Er drehte sich um. Es war ein kleines Schwesterchen.
»Lieber Robert, gib mir ein Stückchen Brot!« bat es schluchzend. »Ich kann es nicht mehr