Maigret verliert eine Verehrerin. Georges Simenon
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Sie klingelte ihrerseits, und als sie den Arm nach der Klingelschnur ausstreckte, zeigte sie ein Stück nackte Haut.
»Selbst wenn Cécile nicht da ist, ihre Tante …«
Maigret harrte zehn Minuten lang auf dem Treppenabsatz aus und musste dann fast einen Kilometer zurücklegen, um einen Schlosser ausfindig zu machen. Auf den Lärm hin kam nicht nur das junge Mädchen wieder angelaufen, sondern auch ihre Mutter und Schwester.
»Glauben Sie, dass ein Unglück passiert ist?«
Das Türschloss, an dem keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen waren, ließ sich ohne größeren Aufwand öffnen. Maigret betrat als Erster die mit alten Möbeln und Nippes vollgestopfte Wohnung, aber er achtete nicht auf Einzelheiten. Ein Wohnzimmer … Ein Esszimmer … Eine offene Tür und in einem Mahagonibett eine alte Frau mit gefärbtem Haar, die …
»Ich bitte Sie zu gehen. Hören Sie?«, rief er, sich umdrehend, in Richtung der drei Nachbarinnen. »Wenn Sie das lustig finden, tun Sie mir leid.«
Eine seltsame Leiche: eine kleine rundliche alte Frau, geschminkt und mit strohigem, zu stark blondierten Haar, an dem man jedoch einen weißen Ansatz sehen konnte; ein roter Morgenmantel und nur ein Strumpf, an dem Bein, das aus dem Bett heraushing.
Es bestand kein Zweifel, dass sie erwürgt worden war.
Mit düsterer und besorgter Miene kehrte er auf den Treppenabsatz zurück.
»Würde bitte jemand von Ihnen einen Polizisten aus der Gegend herbringen?«
Fünf Minuten später telefonierte er aus der Telefonkabine eines nahe gelegenen Bistros.
»Hallo … Ja, Kommissar Maigret … Wer ist dran? … Gut … Sag mal, Kleiner, ist Cécile vielleicht bei euch noch mal aufgetaucht? Geh zur Staatsanwaltschaft rüber und versuch den Staatsanwalt persönlich zu sprechen … Sag ihm … Hörst du? … Ich bleibe hier … Hallo? … Gib auch dem Erkennungsdienst Bescheid … Wenn Cécile doch wiederkommen sollte … Was sagst du? … Hör auf, Kleiner, da gibt es im Moment wirklich nichts zu lachen.«
Als er, nachdem er an der Theke ein Glas Rum heruntergestürzt hatte, das Bistro verließ, standen um die fünfzig Personen vor dem Haus in Form eines Kuchenstücks.
Unwillkürlich hielt er nach Cécile Ausschau.
Erst um fünf Uhr nachmittags sollte er erfahren, dass sie ebenfalls tot war.
2
Madame Maigret würde wieder einmal allein vor den beiden Gedecken warten, die sie auf dem runden Tisch aufgelegt hatte. Wie sehr sie daran gewöhnt war! Es hatte auch nichts genützt, dass sie sich eine Telefonleitung hatten legen lassen: Maigret vergaß trotz allem, sie zu benachrichtigen. Was den jungen Duchemin betraf, so würde Cassieux ihm die übliche Strafpredigt halten müssen.
Langsam und mit besorgtem Gesichtsausdruck war der Kommissar die fünf Treppen wieder hinaufgegangen, ohne zu bemerken, dass auf jedem Treppenabsatz Mieter standen. Cécile war es, an die er dachte, dieses farblose Mädchen, über das sie sich so lustig gemacht hatten und das manche bei der Kriminalpolizei Maigrets ›Verehrerin‹ nannten.
Hier lebte sie also, in diesem gewöhnlichen Vorstadtwohnhaus, diese dunkle Treppe ging sie jeden Tag hinunter und wieder hinauf; diese Atmosphäre war es, die noch an ihrer Kleidung haftete, wenn sie sich verängstigt und geduldig in den Warteraum am Quai des Orfèvres setzte.
Wenn Maigret sich dazu herabgelassen hatte, sie zu empfangen, hatte er sie dann nicht mit einem Ernst, der nur schlecht seine Ironie verbarg, gefragt:
»Und, sind heute Nacht wieder Dinge verrückt worden? Ist das Tintenfass am anderen Ende des Sekretärs angelangt? Hat der Brieföffner seine Schublade verlassen?«
Im fünften Stock angekommen gab er dem Polizisten die Anweisung, niemanden in die Wohnung zu lassen, stieß die Tür auf, überlegte es sich dann aber anders und untersuchte die Klingel. Es war keine elektrische Klingel, sondern eine dicke rotgelbe Schnur, die herunterhing. Er zog daran. Im Wohnzimmer war ein klösterliches Gebimmel zu hören.
»Achten Sie darauf, dass niemand die Tür anfasst«, wies er den Polizisten an.
Für den Fall, dass Fingerabdrücke darauf zu finden wären. Aber er glaubte selbst nicht daran. Er war in düsterer Stimmung. Das Bild von Cécile ließ ihn nicht los, wie sie im Aquarium saß – denn so nannte man am Quai den Warteraum mit seiner einen verglasten Wand.
Er war zwar kein Arzt, aber es war nicht schwer zu erkennen, dass die alte Dame schon mehrere Stunden tot war, also lange bevor ihre Nichte am Quai des Orfèvres erschienen war.
War Cécile bei dem Verbrechen dabei gewesen? Wenn ja, hatte sie niemanden benachrichtigt, nicht um Hilfe gerufen. Sie war bis zum Morgen mit der Leiche in der Wohnung geblieben und hatte sich dann wie gewöhnlich zurechtgemacht. Er hatte sie sich bei seiner Ankunft am Quai genau genug angesehen, um zu wissen, dass sie normal gekleidet war.
Dieses Detail schien ihm wichtig, und er wollte sich sofort vergewissern. Er suchte ihr Zimmer. Er fand es nicht gleich. Zur Straße hin lagen drei Räume: das Wohnzimmer, das Esszimmer und das Schlafzimmer der Tante.
Auf der rechten Seite des Flurs die Küche und eine Speisekammer. Er öffnete eine Tür auf der anderen Seite der Küche und entdeckte eine von einem Oberlicht nur schwach erhellte Kammer, in der ein Eisenbett, ein Waschtisch und ein Kleiderschrank standen: Céciles Zimmer.
Das Bett war nicht gemacht. In der Waschschüssel war noch Seifenwasser, und zwischen den Zinken eines Kamms hingen ein paar dunkle Haare. Über einem Stuhl hing ein rosa Flanellmorgenmantel.
Wusste Cécile es schon, als sie sich ankleidete? Es konnte noch nicht hell gewesen sein, als sie auf die Straße trat, oder vielmehr auf die Route Nationale, die vor dem Haus entlangführte, und an der kaum hundert Meter entfernten Haltestelle auf die Straßenbahn wartete. Es hatte dichter Nebel geherrscht.
Bei der Kriminalpolizei hatte sie ihren Anmeldezettel ausgefüllt und sich im Warteraum unter den schwarzen Rahmen gesetzt, in dem die Fotos der im Dienst ums Leben gekommenen Inspektoren hingen.
Endlich war Maigret auf der Treppe erschienen. Sie war aufgesprungen. Gleich würde er sie empfangen, und sie würde ihm alles sagen können …
Aber nein, über eine Stunde ließ er sie warten. Die Flure belebten sich, Inspektoren riefen einander im Vorbeigehen etwas zu, Türen gingen auf und zu. Weitere Personen nahmen im Aquarium Platz, und der Bürodiener rief sie einen nach dem anderen herein. Nur sie allein blieb übrig …
Was hatte sie dazu bewegen können zu gehen?
Mechanisch stopfte Maigret seine Pfeife. Er hörte Stimmen im Treppenhaus. Die Mieter besprachen das Ereignis, und der Polizist forderte sie freundlich dazu auf, wieder in ihre Wohnungen zu gehen.
Was war aus Cécile geworden?
Die ganze Stunde lang, die er allein in der Wohnung verbrachte, ließ ihn dieser Gedanke nicht los und gab seinem Gesicht diesen verschlafenen Ausdruck, den seine Mitarbeiter gut kannten.
Dennoch arbeitete