Der weisse Schmetterling. Walter Mosley

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Der weisse Schmetterling - Walter  Mosley Kampa Pocket

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der Kreuzung der Ninety-third und Hooper Street war eine kleine öffentliche Bücherei. Die Bibliothekarin war Mrs. Stella Keaton. Wir kannten uns seit Jahren. Sie war eine Weiße aus Wisconsin. Ihr Mann hatte 1934 einen tödlichen Herzinfarkt gehabt, und ihre beiden Kinder waren im Jahr danach bei einem Brand ums Leben gekommen. Ihr einziger lebender Verwandter war ein älterer Bruder gewesen, der zehn Jahre lang bei der Navy in San Diego stationiert gewesen war. Nach seiner Entlassung zog er nach L.A. Nach den Tragödien im Leben von Mrs. Keaton lud er sie ein, bei ihm zu leben. Ein Jahr danach wurde ihr Bruder, Horton, krank, und nach drei Monaten spuckte er Blut und starb in ihren Armen.

      Mrs. Keaton hatte nur die Zweigstelle der Bücherei in der Ninety-third Street. Sie behandelte die Leute, die dorthin kamen, wie Geschwister und die Kinder wie ihre eigenen. Wenn man Stammkunde in der Bibliothek war, buk sie einem zum Geburtstag einen Kuchen und reservierte die Bücher, die man mochte, unter dem Vordertresen.

      Stella und ich nannten uns beim Vornamen, aber es machte mich unglücklich, dass sie diese Stelle hatte. Ich war unglücklich, weil Stella bei aller Nettigkeit eine Weiße war. Eine Weiße aus einer Gegend, in der es nur weiße Christen gab. Für Stella war Shakespeare ein Gott. Das störte mich nicht, aber was wusste sie über die Volksmärchen, Rätsel und Geschichten, die sich die Schwarzen seit Jahrhunderten erzählten? Was wusste sie über die Sprache, die wir sprachen?

      Ich hörte immer, wie sie Kinder verbesserte. »Nicht ›ich sein‹«, sagte sie. »Das heißt ›ich bin‹.«

      Und natürlich hatte sie recht. Es war nur so, dass schwarze kleine Kinder, die dieser adretten Weißen zuhörten, in deren Worten nie den eigenen Tonfall hören würden. Sie würden mit der Zeit glauben, sie müssten die eigene Sprache und die eigenen Geschichten ablegen, damit sie ein Teil dieser gebildeten Welt werden konnten. Sie würden Waller gegen Mozart und Remus gegen Puck eintauschen müssen. Sie würden eine Welt betreten, in der nur Weiße sprachen. Und ganz gleich, wie wortgewandt Dickens und Voltaire auch waren, in diesem Haus des Lernens – der Bücherei – wurden diesen Kindern die eigenen Beispiele vorenthalten.

      Über diese Dinge hatte ich mich mit Stella schon oft gestritten. Sie reagierte einfühlsam darauf, aber wenn ich ihr sagte, ein Mann, der an der Straßenecke stehe und derbe Geschichten erzähle, sei etwas Ähnliches wie Chaucer, zog sie die Nase kraus und schüttelte den Kopf. Sie war jedoch immer respektvoll. Oft werden die nettesten Weißen zur Kolonialisierung der schwarzen Gemeinde eingesetzt. Aber so freundlich Mrs. Keaton auch war, unseren Leuten vermittelte sie eine fremde Sicht.

      »Guten Morgen, Ezekiel«, sagte Mrs. Keaton.

      »Stella.«

      »Wie geht’s dem kleinen Jesus?«

      »Bestens, einfach bestens.«

      »Wissen Sie, er ist jeden Samstag hier. Er will immer lieber helfen als lesen, aber ich glaube, er macht Fortschritte. Manchmal, wenn ich zu ihm komme, sieht es danach aus, als ob er die Wörter mit dem Mund formt und vor sich hinspricht.«

      Der Kehlkopf des Jungen war in Ordnung, das hatten mir die Ärzte gesagt. Er könnte sprechen, wenn er wollte.

      »Vielleicht schafft er es eines Tages«, sagte ich, mehr zu mir selbst, um den Gedanken in meinem Kopf abzuschließen, als zu ihr.

      Sie lächelte mit perfekten kleinen Perlen auf ihrem rosafarbenen Zahnfleisch. Mrs. Keaton war klein und drahtig. Sie hatte dieselbe Haarfarbe wie Gabby Lee. Aber Mrs. Keatons Farbe stammte aus einem kleinen Fläschchen, Gabbys dagegen aus dem genetischen Krieg, den weiße Männer seit Jahrhunderten gegen schwarze Frauen geführt haben.

      »Haben Sie die Zeitungen der letzten beiden Monate, Stella?«

      »Aber ja. Times und Examiner.«

      Sie brachte mich in ein Hinterzimmer mit einem langen Lesetisch aus Eiche. Der Raum roch nach alten Zeitungen. Auf den Regalen stapelten sich die Zeitungen, die ich brauchte.

      In den Zeitungen stand im Großen und Ganzen, was Naylor mir gesagt hatte. Die Artikel waren hinten im Blatt versteckt und stellten keine Verbindung zwischen den Verbrechen her.

      Wo Willa Scott und Juliette LeRoi in der Nacht ihres Todes gewesen waren, war unbekannt. Als Beruf wurde bei beiden Kellnerin genannt. Willa aber war offensichtlich arbeitslos gewesen.

      Bonita Edwards war in der Nacht, in der sie starb, in einer Bar. Sie hatte eine Reihe von Drinks gehabt und war mit einer Reihe von Männern gesehen worden. Aber sie ging allein, sagten Zeugen. Das hatte natürlich gar nichts zu bedeuten – vielleicht hatte sie sich mit einem Mann verabredet, der verheiratet war und nicht wollte, dass sich herumsprach, was er trieb. Vielleicht hatte sie sich mit einem Mörder verabredet, der aus denselben Gründen nicht gesehen werden wollte.

      Ich brachte diese Information in Verbindung mit dem, was ich schon über Robin Garnett gelesen und gehört hatte.

      Robin Garnett passte überhaupt nicht ins Bild. Sie wohnte bei ihren Eltern in der Hauser Street, weit weg von hier im westlichen Teil von L.A. Ihr Vater war Staatsanwalt, ihre Mutter war Hausfrau. Robin studierte an der University of Los Angeles. Sie war einundzwanzig und trotzdem erst im zweiten Collegejahr. Sie sei vor Kurzem von einer Europareise zurückgekommen, schrieb die Zeitung, und habe im Hauptfach Pädagogik studiert.

      Robin war ein hübsches Mädchen gewesen. (Sie war das einzige Opfer, dessen Foto veröffentlicht worden war.) Sie hatte rotblondes Haar und ein sehr nettes Lächeln, die Art von Lächeln, die alte Leute »unschuldig« nennen. Ihr Haar war nach hinten gekämmt, sehr konservativ. Ihre Bluse hatte eine durchgehende Knopfleiste, und jeder Knopf war zugeknöpft. Das Foto war für ihre Eltern bestimmt, für ein Jahrbuch; es vermittelte nicht den kleinsten Hinweis darauf, wie sie in Wirklichkeit gewesen sein mochte.

      Auf keinen Fall verriet es, warum sie die Vierte in einer Mordserie gewesen war, die mit drei schwarzen Frauen angefangen hatte. Selbst wenn eine Weiße irgendwie in dieses Mordschema gepasst hätte, warum sollte jemand drei leichte Mädchen ermorden und sich dann auf eine höhere Tochter stürzen?

      Ich ging ratlos in den Hauptraum.

      »Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben, Ezekiel?«

      »Nee.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine, yeah …« Als ich das sagte, runzelte sie die Stirn. Ich wusste, dass sie mich am liebsten mit einem klaren »Ja« verbessert hätte.

      John McKenzies Bar war im Lauf der Jahre größer geworden. Er hatte eine Küche und acht plüschige Nischen für Essensgäste angebaut. Er hatte sogar einen Schnellkoch eingestellt, der Steaks verbrannte und Gemüse zu Tode kochte. Es gab eine Bühne für Blues- und Jazzsessions. Und Kellnerinnen, drei an der Zahl, servierten an der Bar und den runden Tischen um die Bühne herum.

      John gehörte das Targets immer noch, aber im Grundbuch stand Odell Jones’ Name. John war für eine Schanklizenz zu oft mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, deshalb brauchte er einen Strohmann. Odell war ideal. Er war sanftmütig, arbeitete nur noch nebenher, wurde in zwei Jahren sechzig und war zweiundzwanzig Jahre älter als ich.

      Odell saß in seiner Stammnische ziemlich weit hinten. Er trank Bier und las den Sentinel – L.A.s größte Zeitschrift nur für Schwarze. Wir hatten seit über drei Jahren kein Wort mehr gewechselt, und es brach mir immer noch das Herz, dass ich einen so guten Freund verloren hatte. Aber wenn man arm ist und sich in dieser Welt durchschlägt, stößt man manchmal unsanft mit anderen zusammen. Und die Leute, denen man am meisten wehtut, sind arme Schweine wie man selber. Einmal, als ich tief in der Patsche

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