Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Ein Buch, das den Untertitel Meine Geschichte trägt, kann den Angriff nicht auslassen, der Ende Mai 2020 auf Twitter begann und nach einem tendenziösen Bericht in der Süddeutschen Zeitung unter anderem dazu führte, dass ich meine Position als Co-Sprecher des bayerischen Forschungsverbundes »Zukunft der Demokratie« aufgegeben und meinen Blog Medienrealität eingestellt habe.1
Auf den ersten Blick hat dieser Angriff nichts mit diesem Buch zu tun. Ich schreibe hier über die Journalistenausbildung in der DDR – über ein Thema, das ich in die Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft einbette und als Beispiel sehe für den Umgang mit dem Erbe der DDR. Um das zuzuspitzen: Dieses Erbe wird ignoriert. Zu diesem Erbe gehören die Erfahrungen des Scheiterns, die Debatten, die dem Scheitern im langen 89er Herbst folgten, und die Ideen, die dort produziert wurden. Egal ob an runden Tischen, auf Vollversammlungen oder in den vielen kleinen Foren, die diese Zeit für alle unvergesslich machen: Es ging um die Fragen, die uns immer noch beschäftigen. Wie wollen wir zusammenleben? Wie schaffen wir es, dass alle mitsprechen können, wenn es um ihr eigenes Leben geht?2 Wie schaffen wir es vor allem, dass auch unsere Urenkel noch darüber streiten können? Was heute die Welt bedroht, in der sich viele gemütlich eingerichtet haben, stand schon vor 30 Jahren auf der Tagesordnung.
Die Antworten von damals sind verschluckt worden von einer Vereinigungsmaschine, die nur einen kleinen Teil der Ostdeutschen brauchte, um genauso weitermachen zu können wie vorher – die Opposition und die Reste der bürgerlichen Milieus, denen Uwe Tellkamp in seinem Roman Der Turm ein Denkmal gesetzt hat.3 Man muss nur diesen Roman lesen, um zu verstehen, warum Ärzten, Künstlern, Ingenieuren, Kirchenleuten der Übergang von einer staatlichen Werteordnung in die andere längst nicht so schwer fiel wie den Kommunisten oder den vielen Aufsteigern, die die DDR getragen haben4 und denen ich mich schon deshalb verbunden fühle, weil ich wahrscheinlich einer von ihnen geworden wäre.
Das Erbe sind wir: Dieser Titel meint nicht nur Menschen wie mich, sondern auch das, was wir einbringen können. Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die ich selbst erlebt habe. Mit der Leipziger Sektion Journalistik ist ein Paradigma entsorgt worden, das Forschung und Berufspraxis verbunden hat und heute helfen könnte, die Redaktionen aus der Umklammerung der Politik zu befreien oder von den Zwängen einer kommerziellen Medienlogik, für die Aufmerksamkeit alles ist und alles andere nichts. Das ist kein Plädoyer für eine Rückkehr zur DDR oder gar zu den ideologischen Prämissen, die die Parteipresse genauso unglaubwürdig gemacht haben wie die TV-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera.5 Der Journalismus war damals kein Journalismus, sondern politische PR.6
Gerade die Gängelung durch die SED hat allerdings, das hoffe ich in diesem Buch zu zeigen, ein Journalismusideal gefüttert, das »Öffentlichkeit als gesellschaftlichen Auftrag« sieht.7 In Kurzform: erst das Handwerk, dann die Haltung. Alle Perspektiven und Interessen zu Wort kommen lassen, ohne die (Ab-)Wertung gleich mitzuliefern. Dieser journalistische Auftrag lässt sich leicht mit einem Demokratieverständnis verbinden, das alle als Freie und Gleiche anerkennt und den öffentlichen Debattenraum braucht, um den Frieden nach innen und nach außen zu sichern. Auch hier wieder in Kurzform: Öffentlichkeit ist der Ort, an dem Pluralität und Heterogenität in Einklang gebracht werden können. Öffentlichkeit ist das »Herzstück« der Demokratie, weil wir hier zu »argumentativen Anstrengungen« gezwungen sind, um unsere subjektiven Interessen zu objektivieren.8
Wer wie ich unter Zeitungen gelitten hat, die die Lesbarkeit und die Gunst ihres Publikums auf dem Altar der Interessen ihrer Besitzer geopfert haben, hat das Schlagwort ›publizistische Vielfalt‹ als Versprechen verstanden.9 Ich war nicht dabei, als Armin Kühne am 16. Oktober 1989 das Cover-Foto geschossen hat, wie vermutlich die meisten nicht, die mit mir studiert haben. »Pressefreiheit« und Sektion Journalistik: Das passt auch aus historischer Distanz nicht zusammen. Zwei Tage nach dieser Leipziger Montagsdemo ist neben Erich Honecker auch Joachim Herrmann zurückgetreten, sein Adlatus für Agitation und Propaganda. Fortan, so habe ich das damals gesehen, fortan wird es möglich sein, über all die unterschiedlichen Meinungen und Interessen zu diskutieren, die es in einer Gesellschaft gibt. Man wird sich nicht immer einigen können, natürlich nicht, sich aber selbst ein Bild machen können, weil die entsprechenden Informationen und die wichtigsten Interpretationen für jeden zur Verfügung stehen.
Mein Blog Medienrealität war diesem Ideal verpflichtet. Ich habe den öffentlichen Debattenraum dort mit den Mitteln der Wissenschaft seziert und all das kritisiert, was die Erfüllung des Auftrags Öffentlichkeit gefährdet. Ich will mir nicht anmaßen, hier einen schärferen Blick zu haben als andere, da es in diesem Buch aber um das ›Erbe‹ geht (ein positiv besetzter Begriff), das Menschen wie ich einzubringen haben, möchte ich hier wenigstens einen Punkt setzen und dafür den Sozialkonstruktivismus bemühen.
Jeder Mensch wird in eine »institutionelle Ordnung« hineingeboren, die uns »Wissen« über die »Wirklichkeit« liefert (über Phänomene, die ohne unser Wollen da sind). In dieser »institutionellen Ordnung«, die durch eine »symbolische Sinnwelt« legitimiert wird (etwa: Katholizismus, Marxismus, Neoliberalismus), leben wir normalerweise »ganz naiv« vor uns hin – solange jedenfalls, wie der Alltag funktioniert und bis »eine Gesellschaft auf eine andere stößt, die eine ganz andere Geschichte hat«.10 Vermutlich muss ich gar nicht mehr ausformulieren, worauf diese Argumentation hinausläuft. In den späten 1980ern hat der Alltag in Leipzig nicht mehr funktioniert. Es hat gestunken, die Läden waren leer, die Menschen sind weggelaufen – und in der Realität der Medien war der Sozialismus trotzdem auf der Siegerstraße.
Die ›institutionelle Ordnung‹ der Gegenwart und die ›symbolische Sinnwelt‹, die sie legitimiert, waren für mich nicht einfach da. Ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die keinen Grund haben, beides in Frage zu stellen. Ich muss dafür nur durch München gehen. So viel Reichtum und so viele braungebrannte Gesichter. Gerade mit Blick auf die existenziellen Fragen, die wir in den nächsten Jahren beantworten müssen, sollten diese Menschen aber auch verstehen, welche Vorteile es hat, ›institutionelle Ordnung‹ und ›symbolische Sinnwelt‹ stets einem Wirklichkeitstest zu unterziehen. Das ist das, was Menschen wie ich zu bieten haben. Das ist das ›Erbe‹, auf das der Buchtitel anspielt. Und dafür steht der Ruf nach »Pressefreiheit«, der für den flüchtigen Blick weit weg vom Thema DDR-Journalistik zu sein scheint.
Anmerkungen
1Vgl. Michael Meyen: Kontroverse um »Medienrealität«. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020. https://medienblog.hypotheses.org/9621 (5. Juni 2020)
2Vgl. Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Stuttgart: Philipp Reclam 2019, S. 18
3Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008
4Vgl. Lutz Niethammer: Erfahrungen und Strukturen: Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 95-115
5Vgl. Franziska Kuschel: Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien. Göttingen: Wallstein 2016, Michael Meyen: Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR. Berlin: Ch. Links 2003
6Vgl.